Hören und Bauen
Vortrag von Peter Androsch beim Forum Holzbau
Der Mensch: eine Person
Wer bauen will, muss hören, denn nur die Ohren nehmen Raum wahr. Nur sie ermöglichen dem Menschen, Raum zu erfassen. Menschengerechtes Bauen bedingt, den Menschen ins Zentrum zu stellen, ihn als Person zu respektieren. Die Person ist die Durchklingende, die – also einer Membran gleich – Schall abgibt und Schall aufnimmt. Nicht ohne Grund wurde dieses Wort, das ursprünglich die Maske im etruskischen Theater bezeichnete, zum Synonym des Menschen schlechthin. Mensch ist, wer per-soniert, wer schwingt.
Die Gründe liegen im Dunkeln, weshalb die Architektur in der Moderne zu einer tauben Disziplin verkommen ist. Sie hat ihr Innerstes, die Verantwortung für die Gestaltung und die Gestalt des Raumes verloren. Und seitdem schlingert sie auf wackeligem Grunde, ohne die von ihr geschaffenen Räume wahrnehmen und beurteilen zu können.
Die Basis liegt im Ohr
Die Basis aller Raumwahrnehmung liegt im Ohr. In ihm verbinden sich quasi zu einer Trinität die drei Sinnesapparaturen für Gleichgewicht, Orientierung und Gehör. Den meisten ist das Ohr nach wie vor ein Rätsel, entzieht es sich doch der eigenen Aufmerksamkeit durch die Unbewusstheit seiner Funktionsweise. Alle drei in ihm angesiedelten Sinne bedürfen jedoch dieser Unbewusstheit. Aber auch für Fachleute ist so manche Funktion und Leistung des Ohres noch ungeklärt. Physiologisch lassen sich Außen-, Mittel- und Innenohr unterscheiden.
Der Gleichgewichtssinn legt im wahrsten Sinne des Wortes die Basis. Erst durch ihn können wir liegen, sitzen, gehen, spielen, bauen, planen, vor-stellen. Er verankert uns in der Welt, gibt uns das Bezugssystem für alle Räume und Bewegungen. Sein Wirken ist unserer Kontrolle entzogen.
Das Gleichgewichtsorgan liegt eng verschränkt, ja nahezu verwoben im Innenohr. Seine Teile, die beiden Vorhofssäckchen (Utriculus und Sacculus) und die drei Bogengänge, funktionieren im Grunde durch die Wahrnehmung von Flüssigkeiten oder flüssigkeitsähnlichen Substanzen in ihrem Inneren durch induzierte Bewegungen. Sinneszellen innerhalb der Organe senden Impulse über ihre Wahrnehmungen an den Hirnstamm. (Wahrscheinlich unzulässig vereinfacht, aber wohl plastisch vorstellbar, ist der Vergleich mit einem halb gefüllten Gefäß. Die Oberfläche der Flüssigkeit tendiert auch bei Bewegung dazu, wieder waagrecht einzupendeln. Sinneszellen im Inneren des Gefäßes könnten dies wahrnehmen.)
Jedenfalls gelangen wir dadurch zur Grundlage unserer Existenz und zum Bemühen ihrer Bewahrung durch komplexe Rückkopplungs- und Steuerungsmechanismen. Denken wir an alltägliches Stolpern. Es ist erstaunlich, wie schnell, wie automatisiert und wie meist erfolgreich die Wiedererlangung des Gleichgewichts erreicht wird, und wie wenig uns diese Tätigkeit in Anspruch nimmt. Die Sinnesinformationen werden im Hirnstamm, dem ältesten Teil des Hirns, verarbeitet. Der Hirnstamm koordiniert neben dem Gleichgewicht auch andere allgemeine Lebensfunktionen wie Herzschlag, Atmung und Stoffwechsel, aber auch Reflexe. Würden diese Schutzreflexe nicht über das Rückenmark, sondern das Großhirn erfolgen, wären sie um vieles zu langsam.
Der Orientierungssinn
Der zweite in dieser Dreifaltigkeit ist der Orientierungssinn bzw. die Raumwahrnehmung. Dadurch werden uns Informationen über die Beschaffenheit unseres Lebensraumes und unserer Position in ihm geliefert. Vielleicht liegt ein tieferer Grund dahinter, dass der zur Wahrnehmung notwendige Vorgang, sowohl im Geistigen, als auch im Körperlichen Reflexion heißt. Denn auch hier werden die grundlegenden Informationen aus Reflexion gewonnen, und zwar aus der Reflexion von Schallwellen in geschlossenen oder offenen Räumen. Schon der erste Schritt in einen neuen Raum löst in uns einen Prozess der „Raumeinschätzung“ aus, der zuerst durch die Laufzeitdifferenz des Schalls möglich wird. Jeder Schall, der uns erreicht, braucht von seiner Quelle bis zu den Ohren jeweils verschieden lang. Er weist somit verschieden lange Laufzeit auf zum linken und zum rechten Ohr. Diese Laufzeit-Differenz, die in Sekundenbruchteilen meßbar ist, ermöglicht dem Gehirn die Berechnung des Ortes der Quelle. (Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass auch die Form der Ohrmuscheln in diesem Prozess das ihre beiträgt.)
Gleichzeitig entziffern wir durch die Beschaffenheit der Schallreflexionen die Qualität des Raumes. Es erschließt sich dadurch Größe, Form und Materialität. Wenn der simple Vergleich erlaubt ist, dann kann man sich Schallreflexion genauso vorstellen wie die Flugbahn von Sqashbällen. Wenn wir beim Beispiel des ersten Schrittes beim Eintritt in einen Raum bleiben, dann wird der dadurch ausgelöste Schall von den Raumbegrenzungen zurückgeworfen. Einfallswinkel ist im allgemeinen Ausfallswinkel. Die für die Reflexion notwendige Zeitdauer erschließt die Raumgröße, die Anzahl von nacheinander stattfindenden Reflexionen noch dazu die Raumform und der reflektierte Frequenzbereich die Raummaterialität. Intuitiv kennt diesen Vorgang jeder Mensch, – zum Beispiel immer wieder beeindruckend vom Innenraumerlebnis in Kirchen. Dass diese raumwahrnehmende Leistung, also raum-ästhetische Leistung rätselhaft erscheint, macht sie nur noch grandioser.
Form, Material, Reflektion
Form und Materialität eines Raumes determinieren die reflektierten Frequenzen. Es ist nämlich nicht so, dass jeder Schall, der auf eine Wand o.ä. auftrifft, zur Gänze reflektiert wird. Form und Material entscheiden, ob eher hohe, mittlere oder tiefe Anteile des ursprünglichen Schalls zurückgeschleudert werden. Weiches, hartes, oberflächlich heteromorph oder homomorph gestaltetes Material weist auch unterschiedliche Reflektionseigenschaften auf.
Gleichzeitig ist die Raumform gebaute Schallformung. Dies ist besonders klar, wenn parallel gestellte Wände Räume für Arbeit, Gespräch, Unterricht, kurz für alles, was mit Sprache zu tun hat, unbrauchbar machen. Die Parallelität gefährdet in hohem Maße die Sprachverständlichkeit. Der Sprachschall wird so rasch zu den Hörenden zurückgeschleudert, dass Doppel- und Dreifachinformation rasch ermüden oder sogar Unverständlichkeit zur Folge haben. Sehr oft entwickeln sich zwischen den parallelen Flächen auch sogenannte „stehende Wellen“. Das sind Wellen, die quasi ad infinitum reflektiert werden, weil sie nicht abgelenkt werden und daher keine Energie abgeben können.
Hören – unbewusst und ununterbrochen
Damit zum dritten im Bunde, zum Hörsinn: Er ist der Fluchtsinn schlechthin. Bis heute funktioniert die schnelle Datenleitung in die ältesten Teile unseres Hirnes, die uns zur Flucht oder Abwehrreaktion treiben. Auch das Hören kennzeichnet die Unbewusstheit der Wahrnehmung. Wir wissen nicht, dass wir hören. Wir hören. Und wir wissen nicht, was wir hören. Wir hören. Ein gesunder junger Mensch hört in einer Bandbreite von ungefähr 20 bis 20.000 Hertz. Diese Bandbreite reduziert sich quasi natürlich im Laufe des Lebens. Geräusche, die auf Gefahren hinweisen, liegen tendenziell an den Rändern des menschlichen Hörvermögens, also sehr hoch oder sehr tief. Denken wir an die quietschenden Reifen im Straßenverkehr und den folgenden Schweißausbruch. Oder denken wir an die beängstigende Wirkung von tiefen Klängen im Kino. Beide Enden unseres Hörvermögens sind eher den Gefahren zugeordnet. Gleichzeitig setzt uns eine akustische Umgebung in Alarmstimmung, die von großen Gegensätzen in puncto Lautstärke, Frequenz, Tempo gekennzeichnet ist.
Deshalb ist auch das Reflektionsverhalten eines Raumes von existenzieller gesundheitlicher Bedeutung. Formen und Materialitäten, die überwiegend die Frequenzanteile reflektieren, die die Warnfunktion unseres Gehörs aktivieren, setzen uns in Dauerstress und können massive gesundheitliche Schäden zur Folge haben. Monotone Materialwahl führt zur Verzerrung der Raum- und Orientierungswahrnehmung und zu profunder Überlastung des Sinnesapparates. Homomorphe Oberflächen, besonders bei harten Materialien, und parallele Flächengestaltung führen zu eklatanter Verminderung der Sprachverständlichkeit, können wie akustische Verstärker wirken und somit zu gesundheitsschädlichen Lautstärkepegeln führen. Dies ist im übrigen in österreichischen Schulen beängstigend oft der Fall.
Materialitäten, die Reflektionsmuster erzeugen, die mit den visuellen Raumeindrücken nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, erzeugen Orientierungsprobleme, Stress, Konzentrationsschwäche.
Sowohl über die ontogenetische als auch phylogenetische Disposition des Ohres wäre noch viel anzuführen, zu verfeinern, zu ergänzen, zu vertiefen. Auch wäre besonders die Instrumentalität jedes Baus darzustellen. Unabhängig um welche Art von Bau es sich handelt, sei es im Wohn-, Industrie-, Straßen-, Schienenbau oder anderswo. Jeder Bau ist als Instrument, ja gegebenenfalls als Waffe zu begreifen. Als etwas Aktives, das in jedem Falle gestaltend nach innen und nach außen wirkt. Offensichtlich ist also, dass bauliches Gestalten zwangsläufig akustisches Gestalten ist, unabhängig davon, ob dies bewusst oder unbewusst geschieht.
Hören ist Raumwahrnehmen
Umgekehrt ist Raumwahrnehmung eine Leistung des Hörapparates. Nur das Ohr beschert uns dreidimensionale Wahrnehmung, und keine Vor-Stellung wie das Auge. Deshalb heißt Bauen Hören.
Jede elementare akustische Gestaltung hat elementaren Einfluß auf den menschlichen Körper. Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Wohlbefinden, Entwicklungspotential werden durch unsere akustische Umgebung existenziell geprägt. Die Architektur täte gut daran, sich dieser Verantwortung zu stellen.
Peter Androsch
Vortrag beim Forum Holzbau
Internationales Branchenforum für Frauen (IBF)
Meran 2009