Die Ozeanologie des Schallwellenmeeres
Eine Fabel
Mobil zu sein, galt lange Zeit als Privileg. So wie dick zu sein. Die reichen Leute hat man an ihrem imposanten Wanst erkannt. Da war klar, daß es an nichts mangelt und daß genügend Kleingeld für alle Naschereien der Welt übrig ist. Heute erkennt man die reichen Leute wieder an ihrem Wanst. Oder besser am Wanst ihrer Autos. Fette, unförmige SUVs quetschen sich durch die Gassen der historischen Städte und sperren mit ihren breiten Ellbogen die nebenan Parkenden in ihre Gefährte ein. Die können dann nur hoffen, daß auf der anderen Seite ein verträgliches Gefährt steht. Sonst ist nämlich nirgends Platz, um die Türe zu öffnen.
Dieser fette Wanst ist das Synonym für die Verkehrspolitik in Europa.
Mobilität ist der Fetisch schlechthin. Egal, ob mit PKW, LKW, Bahn, Schiff oder Flugzeug. Wer sich einmal die Mühe macht, im deutschen Rheintal die Verheerungen durchgeknallter Mobilitätssucht zu überprüfen, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und ganz besonders hinterhältig kommt diese Sucht im Bereich der Luft daher. Nein, mir geht es nicht darum, woran Sie jetzt denken! Zugegeben, das wären auch lohnende Themen: Luftreinheit, Feinstaub usw.
Nein, ich denke an die Luft als Schallwellenmeer.
Eigentlich bewegen wir uns durch die Luft wie Fische durch das Wasser. Die Luft schwingt, bewegt sich in Wellen. Die bewegte Luft versorgt uns mit den wichtigsten, ja mit den überlebenswichtigen Informationen. Sie transportiert das gesprochene Wort zu uns her und trägt die eigenen Worte weiter. Sie sagt uns, wie weit Wesen und Dinge von uns weg sind. Sie sagt, wie groß die Räume sind, in denen wir uns aufhalten, welche Form sie haben und woraus sie sind. Aus hartem oder weichem, glattem oder porösem Material. Sie sagt uns, wie schnell sich etwas bewegt, und vor allem in welche Richtung. Die Luft sagt uns auch, ob es sicher ist, oder ob es gefährlich werden könnte. Sie schickt uns dazu Schallwellen, die recht hoch — so wie das Reifenquietschen bei einer Vollbremsung — oder tief, oder recht disparat sind, — also durch große Gegensätze gekennzeichnet. Auch sagt sie uns, ob wir alle unsere Sinne beisammen haben. Denn nur wenn das, was wir hören, sehen, tasten, riechen, im Hirn widerspruchsfrei zu einem Ganzem zusammengebaut oder -gerechnet werden kann, bleiben wir im Gleichgewicht. Das nennt man Sinnesintegration. Wenn die einmal nicht mehr funktioniert, dann bimmeln alle Notfallglocken.
Wie auf einem schwankenden Schiff.
Und wie macht die Luft das alles? Sie schwingt. Sie macht Wellen. Eben Schallwellen. Die schwappen, kräuseln oder überstürzen sich. So wie am und im Meer. Die tiefsten Schallwellen, die wir mit dem Ohr hören können, sind auch die längsten. Die sind weit über dreißig Meter lang, — also echte Ungetüme. Die höchsten sind recht putzig, irgendwo zwischen einem und zwei Zentimeter. Aber Achtung! Die können ordentlich pieksen. Das kann recht weh tun. Wie wenn eine Gabel auf einem Teller kratzt. Da rinnt es uns kalt den Rücken runter.
In diesem ewig bewegten, schwankenden und schaukelnden Meer schwimmen wir herum. Wie ein Menschenfisch im Schallwellenmeer.
Da sollten wir doch schauen auf unser Meer, nicht?
Darauf schauen, daß das Meer menschenwürdig bleibt. Daß es nicht zu große Wellen gibt, oder immer zu lange Wellen und mittlere oder kurze. Wir sollten aber auch drauf schauen, daß es immer Wellen gibt. Denn wenn es kein Schallwellenmeer mehr gibt, sind wir tot. Dann ist es nämlich totenstill.
Die Luft kann uns all die Informationen, die ich oben beschrieben habe, nur geben, wenn sie uns Wellen schicken kann. Deshalb heißt Ruhe auch nicht, daß die Wellen Pause machen oder frei haben. Ruhe heißt, daß die Wellen so sind, daß sie uns angenehm sind. Und das kann recht Unterschiedliches heißen. Das kann davon abhängen, ob ich ein kleiner oder ein großer Menschenfisch, oder ob ich hellwach oder müde bin. Es kann aber auch davon abhängen, ob sich die Wellen überschlagen oder zurückgeschleudert werden. Auch an welcher Stelle auf der Erde ich im Schallwellenmeer schwimme, macht einen Unterschied. Also ob ich im italienischen, indischen, österreichischen, afrikanischen oder peruanischen Schallwellenmeer schwimme, verändert die Lage grundlegend.
Die Ozeanologie der Schallwellen ist also doch recht kompliziert. Meist denken wir über die Schallwellen ja gar nicht nach, das muß auch einmal gesagt werden. Der Fisch denkt ja auch nicht über das Meer nach, geschweige denn über die einzelne Meereswelle, oder?
Meist denken wir erst dran, wenn uns etwas nicht paßt mit den Wellen. Wenn sie zu stark sind, also zu hoch aufragen, oder zu dicht aneinander sich drängen. Oder wenn sie sonst lästig, unangenehm, gefährlich oder ungesund sind. Dann wollen wir uns schützen vor ihnen. Das ist recht und billig. Nur ist es dann schon zu spät. Weil dann haben wir die Wellen schon. Wir könnten uns dann Schallwellenschützer um den Kopf binden. Oder Schallwellenmauern aufbauen, um nicht überschwemmt zu werden. Das ist alles recht aufwendig und immer hintennach.
Die Ozeanologie der Schallwellen interessiert uns eigentlich nur so weit wirklich, so weit sie mit uns zu tun hat. Mit uns selbst, mit unseren Körpern. Also sollten wir die Schallwellen aus unserer Perspektive denken. Das hieße Anthropologische Ozeanologie der Schallwellen. Die denkt an die Bedürfnisse unserer Körper und schaut, daß sie im Schallwellenmeer befriedigt werden können. Was braucht der Mensch, der Anthropos?, fragt sie. Aus dem, was der Mensch braucht, kommt er zu Zielen für die Gestaltung des Meeres. Wer anthropologisch denkt, schützt, verhindert, dämmt nicht, sondern gestaltet eine menschengerechte Schallwellenmeeresumwelt. Daraus leitet sich ab, wer wann was wie im Schallwellenmeer machen oder lassen soll.
Es ist jedenfalls strikt zu unterbinden, mitten in das Meer Mauern zu stellen, noch dazu glatte, riesige, harte Mauern, die die Wellen zurückschleudern und uns auf den Kopf knallen. Das ist sehr verboten.
Es sollte auch verboten sein, daß ein paar hyperaktive Bewegungsfetischisten im Meer alles auf den Kopf stellen. Sie brettern mit riesigen Trucks, Schepperzügen oder Knatter- oder Düsenflugzeugen oder SUVs von Süden nach Norden, von Osten nach Westen oder umgekehrt. Keiner weiß eigentlich, weshalb sie dauernd unterwegs sind. Die Kapitäne in Brüssel glauben auch, daß das Schallwellenmeer ununterbrochen durchpflügt gehört.
So drücken die fetten Fische, die mit dem dicken Wanst, die kleinen an die Wand und drücken ihnen die dicksten Schallmeereswellen in die Ohren, bis ihnen die Augen rausquellen. Im Rheintal gibt es gerade eine europäische Versuchsanstalt der hyperaktiven Bahnmobilität. Da wird mit solchen Wellen vibriert, daß die Dörfer in den Rhein reinrutschen. Ach, sind das Klapperschallkisten, die auf den Schienen scheppern, da kippt das Schallwellenmeer!
Das ist sehr verboten.
Denn da kann die Luft, unser Luftmeer uns all die Informationen nicht mehr liefern, die wir brauchen. Und eine Stimme haben und Gehör finden ist doch das Wichtigste, oder?
Jedenfalls braucht es eine Raumplanung, eine Planung des Schallwellenmeeres. Und wer plant, sollte Ziele haben und nicht nur wissen, was er nicht will. Dazu ist es höchste Zeit.
Peter Androsch
In: mobilogisch 4/13, Berlin. 2013.