Audition
»Das Sprechen und das Hören sehen« *
»visibile parlare« – Dantes poetische Herausforderung an den Künstler
Das Sprechen und Hören sehen, wie Dante Alighieri (1265–1321) in seiner Göttlichen Komödie angesichts der von Gott geschaffenen Bildwerke mit »visibile parlare« beschreibt,1 richtet den Blick auf das Wesentliche der Audition. Sie vollzieht sich unter den Wahrnehmungsbedingungen eines akustischen Vorgangs. Dantes Lebenswerk ist ein herausragendes, geschichtliches Beispiel für das Interesse eines Poeten an Theologie und Philosophie.2 Mit beiden verbunden ist eine der Göttlichen Komödie innewohnende Kunstreflexion, die »selbst die Grundlage ist, auf der Dante sein neues Werk errichten konnte«.3 Im Selbstverständnis,4 sein Werk in den Reigen der Theo-Logie zu stellen und damit die scholastische Trennung zwischen Wissenschaft und Dichtung aufzuheben, kennzeichnet Dante seine Verse als heilig.5 Damit verbunden ist eine Gleichsetzung der Gottesrede in der Heiligen Schrift mit den in der Poesie möglichen Aussagen über Gott. Die Poesie ist in der gleichen Lage, allegorische – verbergende und verhüllende – Aussagen über Gott zu formulieren, wie sie die Allegorese des vierfachen Schriftsinns in der Auslegung der Heiligen Schrift unter dem Vorzeichen der Wissenschaft auslegt.6 Dabei geht die Frage nach dem auszu-legenden Gegenstand von dessen ontologischer Gegebenheit aus, die in die Sprache überführt wird.7 ›Das stumme Ding‹ bleibt im Unterschied zur vergänglichen und veränderbaren Sprache in seiner metaphysischen Existenz erhalten. Die Sprache, die mit diesem Vorgang in Verbindung steht, muss mit »ewig« gekennzeichnet sein.8 In seinem Entwurf über die Sprache in »Convivio« kehrt Dante dieses Verhältnis, das er in »De vulgari eloquentia« hinsichtlich der lateinischen Sprache entfaltete, mit Bezug auf das »volgare« − die Volkssprachlichkeit − faktisch um.9 Wendet sich die dichterische Volkssprache den Gegenständen in ihrer Vergegenwärtigung des sie bestimmenden historischen Kontextes zu, so ist sie von vier Grundeigenschaften geprägt. Diese gehen über die literarische und ästhetische Funktion hinaus. Zuerst lichtet die Sprache die Realität und lässt diese in ihrer Bedeutung erscheinen. Damit schafft sie eine Basis, auf der das alltägliche Miteinandersprechen beruht und somit einen gemeinsamen Sprachraum schafft. In der Abgleichung der Alltagssprache mit dem dichterischen Wort werden durch die Dichtung die grammatischen Regeln für die Alltagssprache gewonnen. Diese Grundbestimmung verwendet Dante, um im Rahmen einer »Eröffnung des historischen Bereichs des Jenseits« dem Volk einen Blick in selbiges zu ermöglichen.10 Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Sprachauffassung Dantes keine Begründung in der ontologischen Gegebenheit des Gegenstandes sucht. Diese verhindert einen positiven Zugang zur Erfassung der kontextuellen Wortbedeutung in einer konkreten geschichtlichen Situation und deren Veränderbarkeit innerhalb einer Suche nach neuen Ausdrucksformen, um das Hier und Jetzt der gegebenen Wirklichkeit zu be- und umschreiben.11 Das herausragende Sprachereignis in der Verbindung von sichtbarem Bild und hörbarem Wort als geschichtlich ausweisbaren Offenbarungsvorgang in der Medialität einer poetischen Sprache liefert Dante im zehnten Gesang des Purgatoriums seiner Göttlichen Komödie. Der Florentiner Dichter umschreibt dies mit den Worten »visibile parlare«.12 Dieses von Gott in drei Kunstwerken geschaffene sichtbare Reden13 wurde in seiner Rezeptionsgeschichte bereits wenige Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Werkes unterschiedlich interpretiert.14 Sind die Figuren im Bild in der richtigen Ausdrucksweise dargestellt und ist die Geschichte bzw. die Erzählung dem Betrachter bekannt, beginnen die dargestellten Personen zu sprechen. Der Betrachter vervollständigt das Bild durch seine Rede. Diesen Prozess verlagert Dante in seine Dichtung. Am Übergang von Antipurgatorium zum Purgatorium stoßen Dante und sein Begleiter Virgil auf drei von Gott geschaffene Steinreliefs, die in ihrer Bildauswahl dem Betrachter die Tugend der Demut vor Augen stellen sollen.15 Das erste Relief zeigt die Verkündigung des Engels Gabriel an Maria. Die Szene ist in der Beurteilung Dantes so wahrhaftig, dass das Bild nicht schweigt.16 Das anschließende Relief zeigt den Tanz Davids vor der Bundeslade. Die um die Lade gruppierten Chöre veranlassen Dante, den Streit seines Seh- und Hörsinnes ins Wort zu heben. »Der eine sagte ›Nein‹, der andere, ›Ja, sie singen‹.«17 Betont der Hörsinn die Stummheit des Bildes, so ruft der Sehsinn in der Vergegenwärtigung der Geschichte durch das Bild den Eindruck des Singens hervor, obwohl das Ohr nichts hört. Die letzte Szene, die die Gerechtigkeit Trajans darstellt, bildet für Dante den Anlass, den Dialog zwischen dem römischen Kaiser und der Witwe, die Gerechtigkeit für ihren ermordeten Sohn einfordert, auszuformulieren. Der Leser wird zum Zuschauer und die dargestellten Personen zu Akteuren, denen Dante seine Stimme leiht. In der auditiven Wahrnehmung des Bildinhaltes und der damit verbundenen Gesprächssituationen wird dem Leser in einer ansteigenden Intensität der Erschließung des Bildinhaltes durch die Redepassagen eine Verlebendigung des Dargestellten suggeriert, ohne dass die Reliefs ihren Bildcharakter verlieren.18 Die Reliefs bleiben der sichtbare Deutungsrahmen für die auditiven Elemente der poetischen Beschreibung. In der Divina Commedia betont Dante die literarische Fiktion, die sich im Sichtbarmachen des Nicht-Sichtbaren als poetische Reflexion der göttlichen Offenbarung versteht. Dazu wählt Dante für den Leser nachvollziehbare und bekannte Beispiele und Vorgänge. Gott tritt dabei als Bildhauer in Erscheinung, der auf Grund seiner Absolutheit auch in der Lage ist, ein vollkommenes Kunstwerk zu schaffen.19 Dieses muss sich in seiner medialen Verfasstheit sowohl von den Bildwerken des Menschen als auch von der Natur unterscheiden.20 Die Reliefs sind in den Felsen des Berges gemeißelt und weisen keine Farbigkeit auf. In ihrer Monochromie unterscheiden sie sich deutlich von der Buntheit der Natur. Sie zeigen drei unterschiedliche Einzelszenen, die durch eine übergeordnete Stichwortverbindung »Demut« zusammengebunden werden und diese in drei Erzählungen zugleich entfalten. Dabei verzichtet Dante auf ein Vorher und Nachher der Erzählung. Die Vereinzelung steht für sich alleine und zugleich für den ganzen Erzählvorgang, aus dem exemplarisch eine Einzelszene herausgelöst ist. Diese Reduzierung der Darstellung vermeidet eine simultane Bilderzählung und behält die narrative Struktur eines Nacheinanders bei, die sich in der Abfolge des Dialoges verzeitlicht.21 Die drei historischen Ereignisse liegen für den Betrachter in der Vergangenheit und werden durch ihre bildliche Präsenz im durch den Betrachter und durch das Bild strukturierten Raum und durch die dargestellten handelnden Personen in der Zeit vergegenwärtigt. Auch wenn die Reliefs göttlichen Ursprungs sind, so müssen ihre Identifikationsmerkmale als Kunstwerke für den an Raum und Zeit gebundenen Menschen erhalten bleiben. Sie beziehen sich in ihrer Darstellung auf eine historische Begebenheit. Die bildliche Darstellung wird entsprechend dem biblischen Offenbarungsbegriff zum Handlungsträger für die auditive Mitteilung der handelnden Personen. Auslöser hierfür ist die Darstellung der Redesituation, die mit den abgebildeten Akteuren einhergeht. In der zeitlichen Abfolge des X. Gesanges geschieht dies in Anlehnung an den Vorübergang JHWHs an Moses in Ex 33,18–23 ebenfalls im Nachhinein. Erst als Dante und Virgil die Schlucht durchschritten haben, nehmen sie im Rückblick die Reliefs wahr. Sie sehen in den Kunstwerken die Spur, die Gott an den Wänden hinterlassen hat. Zu dieser in Stein gehauenen sichtbaren Gegenwart Gottes gehört die mit dem Ausdruck der Personen übereinstimmende auditive Gegenwart des Gespräches.22 Diese Übereinstimmung stellt Dante zur Ausformulierung des »visibile parlare« in seiner Beschreibung der Reliefs her23 und schreibt sie gleichzeitig dem göttlichen Ursprung der Darstellung zu. Das Ergebnis der göttlichen Bildhauerei ist die Übereinstimmung vom Ausdruck der Figur und ihrem Sprechen. Dante nimmt dies als Betrachter der Bilder als Identität, wie es der Vorgang der Prägung eines Siegels im Wachs zeigt, wahr.24 Die Rückführung des bildlichen Ausdrucks in die den Abdruck begründende Sprache obliegt jedoch Dante, der hier bewusst zur Stützung der poetischen Siegelmetapher den lateinischen Wortlaut der Verkündigung beibehält. Im poetischen Wort, vernehmbar in der Volkssprache, verdeutlicht er seine Wende von einer ontologisch bestimmten stummen Gegenwart der Dinge hin zu einer Verlebendigung der Vergangenheit in der Gegenwart.25 Der stumme Gegenstand wird in beschreibenden, dem Gegenstand verhafteten Worten wiedergegeben. Das Wort bzw. die Sprache ist hier die Allegorie der Andersrede, die in der Sprache selbst als das Andere (was nicht Sprache oder nicht mehr Sprache ist) aufscheint, auf das sie sich bezieht. Die Sprache vollzieht in sich selbst die Anders- und Sprachwerdung einer stummen Gegenwart der Gegenstände. Die Sprache deutet in ihrer Äußerung des Wortes auf diese stumme Wirklichkeit hin.26 Gleichzeitig zeigt Dante, was die Volkssprache in Bezug auf die stumme Wirklichkeit zu leisten vermag. Sie vergegenwärtigt das dargestellte Geschehen lebendig im Hier und Jetzt. Die Sprache wird zum Ausgangspunkt der Neubestimmung des stummen Gegenstandes. Dante ist in der Lage, die dargestellte Kommunikationssituation unter den kontextuellen Bestimmungen seiner Zeit neu zu formulieren und wahrnehmbar zu machen. Die Vergegenwärtigung des Sprechens im Sprechen wird zu einer Verlebendigung einer von vornherein als allegorisch bestimmten historisch konkreten Wirklichkeit. Dieser Übergang werde vom Dichter durch die ihm durch göttliche Kraft innewohnende Inspiration geleistet.27 Die Dichtung ist in ihrem Vollzug als Sprachereignis28 das ›transcendere in actu‹ der stummen Wirklichkeit in eine lebendige Gegenwart.29 Diesen Übergang vollzieht im X. Gesang Gott, indem er die drei Kunstwerke in Verbindung mit dem Wort »Humilitas« am Fuße des Läuterungsberges schafft. In der Aufspaltung des Wortes in drei unterschiedliche Szenen wird die Wortbedeutung an ihren jeweiligen Kontext angepasst. Ausgangspunkt ist also das Wort, aus dem sich die gegenständliche Bestimmung des Reliefs ergibt. Diesem Prozess folgend zeigt Dante, wozu die inspirierte Dichtung in der Lage ist. Sie verlebendigt die stumme Wirklichkeit, die im sich Ereignen der Sprache gleichzeitig die memoria an das dargestellte Ereignis und an seinen Schöpfer beinhaltet.30 Damit ist die Sprache nicht nur der Ausgangspunkt für das Sehen, sondern in ihrer poetischen Ausfüh-rung auch der Endpunkt. In der ›sichtbaren Rede‹ bildet die Sprachkunst, in der Ausführung des poetischen Werkes durch Dante, für sich selbst das interpretatorisch notwendige »tertium komperationis« und nicht die Verbindung von Gegenstand und Wort als ontologisch, allegorische Gegenstandsbeschreibung. Das vollendete Werk, so Dantes Ausgangspunkt in der Göttlichen Komödie, legt sich in der Formel des »visibile parlare« als Deutungs- und Verstehensraum31 selbst aus. Gelingt es dem ursächlichen Sprachereignis, sich selbst durch die Poesie zum Kunstwerk zu verwandeln,32 − gleichzeitig entbergend und verhüllend zu sein –, so sei dieses im Verständnis Dantes, sowie seiner Commedia, vollkommen zu nennen.
Gut 150 Jahre nach Dante beschreiten die italienischen Humanisten einen neuen Weg, sich der Audition zu nähern. Das Sprechen wird als sich selbst setzende Be-deutungsübertragung im Verhältnis von Wort, Laut und Ton verstanden.
In der Auseinandersetzung mit den Texten Platons und Aristoteles konnten die italienischen Humanisten der Renaissance aus einer Grundbestimmung der kommunikativen Verfasstheit des Menschen die Bedeutung des Sprechens in zwei unterschiedlichen Verhältnissen von Mensch und Welt darstellen. Aus der Bestimmung des Menschen als Sprechenden, die das Hören mit einschließt, ergibt sich nach Platon ein enger Zusammenhang von Gegenstand und Wort, der im sinnvollen Sprechen eine sinnstiftende Ordnung der Welt als Deutungszusammenhang hervorruft. Die Repräsentation des Gegenstandes in der Wahrnehmung und des reflexiven Sprachakts sind dabei so aufeinander bezogen, dass das Wort in seiner sinnvollen definitorischen Verwendung vom Gegenstand aus gebildet und in einem Kausalzusammenhang vom Gegenstand abhängig ist. Andererseits zeigt sich, dass die Bewältigung der Erfahrungswelt des Menschen als Handelnden im Handlungs- und Erfahrungshorizont des Mythos33 und der Geschichte nur als Kommunizierender möglich ist.34 Hier rückt die Vermittelbarkeit des Lebensvollzugs als Kommunikationsprozess in den Vordergrund. Das Sprechen von etwas und das Sprechen über etwas mit dem verstehenden Hören ist konstitutiver Vollzug der Erfahrung des Menschseins. Die Kommunikationssituation ist aus der Erfahrungswelt des Seienden eine weltanschauliche Grundbedingung des Menschen. Das Wort in der Sprache wird nicht mehr als eine eindeutige Aussage auf einen Gegenstand hin verstanden, sondern wird selbst zum Konstitutivum der Erfahrung. Da diese nicht auf einem Menschen, sondern auf der Vielzahl der Menschen mit gleicher oder ähnlicher Erfahrung basiert, ist zur Deutung der Erfahrung auch eine Vielzahl von Wörtern zur Kommunikation des Widerfahrnis von Welt in einem deutenden und damit sinnstiftenden Kontext gegeben.35 Das Verhältnis von Sprache und Wort als Basis einer sinnstiftenden Deutung der Lebenswelt als Erfahrungsraum wirft die Frage nach der Partizipation des Wortes an dem von der Sprache bezeichneten Gegenstand auf.36 Die Sprache besteht aus Lauten (φωνή), die sich aus Tönen ergeben. Aus dieser zunächst einfachen Ableitung ergibt sich die Feststellung, dass die Sprache aus gesprochenen Lauten und in ihrer Kombination aus Laut gebundenen Wörtern besteht und nicht aus geschriebenen Buchstaben. Wie kann jedoch die Bedeutungsübertragung verstanden werden, die aus einem Ton einen sprachgebundenen Laut macht? Nach Aristoteles sind die Laute der Stimme Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellung von Sprache.37 Die Laute partizipieren hier im klassischen Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung des Seienden als Partizip am eigenen Sein, als Vorstellung der Seele als nicht hintergehbaren Grund. Im Rückgriff auf den allgemeingültigen Grund wird die objektive, vom Gegenstand abhängige sinnstiftende und definitorische Bedeutung des Tones und des Lautes durch eine Bedeutungszuschreibung erreicht.38
Der von Grassi als ›platonisierend‹ bezeichnete Humanismus, zu dessen Vertretern vor allem Marsilio Ficino39 und Giovanni Pico della Mirandola zu zählen sind, behält diese kausal-mechanische Beziehung von Gegenstand und Wort als philosophische Position bei. Die Bedeutung des Wortes ergebe sich aus dem logischen Transzendieren dessen, was die Sinne vermitteln. Dadurch werde der Mensch durch den rationalen Prozess der Übertragung zur Schau des An-und-für-sich-Seienden, des Ewigen, erhoben.40 Im platonisierenden Humanismus wird das traditionelle ontologische Denken angewandt, das von der Bestimmung der Materie als Stoff ausgeht, um das Werden des Seienden durch eine erste bestehende Ursache als höchstes Seiendes – als ursprünglichen rationalen Grund – zu erklären. Das Verhältnis von Materie und Erstursache wird bei Ficino und Pico della Mirandola unter der Frage der Wirkung mit einem ›mechanischen‹ Vorzeichen verhandelt.41 Materie als Seiendes sei in sich träge und daher wirkende Kraft, selbst aber zur Wirkung unfähig. Aber wie kann man dann von der Materie als nicht wirkendes, undifferenziertes Seiendes eine Aussage treffen, dass es seiend ist? Die Materie wäre in ihrer Entfernung zur Erstursache so different, dass sie als quasi Nichts eine Wirkung verhindere. Das Verhindern selbst sei also eine Wirkung, die die Materie hervorbringe. Aufgabe des Menschen als Seiender in der Zusammensetzung von Materie und rationaler Erstursache wäre es, sich von den an die Materie gebundenen Formen und von der Erstursache bewirkten Kausalzusammenhängen zu befreien, um letztendlich frei von der Welt zu Gott zu gelangen. In der Sinndeutung der Welt, in der der Mensch nicht Teil der Natur sei, sondern die selbige ihm als Handlungsobjekt zur Verfügung stehe, würden die ver-schiedenen Stufen des Seienden durch die rationale Kausalität als das angewendete gemeinsame Prinzip erschlossen. Das der Welt innewohnende Rationale, das durch die Schöpfung, durch die Erstursache, in den Gegenwartsraum des Menschen und in ihn selbst gelegt wäre und zugleich eine Verbindung zum Ursprung herstelle, ist der Ausgangspunkt für die ontologische Erkenntnis.42
Für das Verhältnis von Ton und Laut im Prozess der Bedeutungsübertragung als Ausdruck des Werdens spielt im Sinne der platonischen Philosophie nicht die Möglichkeit des Prozesses, sondern die faktische Notwendigkeit die entscheidende Rolle. Der Ton, der erzeugt wird, besitze als Seiendes in sich, als Schwingung der Seele, die Beziehung zum Sein. In dieser Beziehung sei in ihm die Ausbildung als Laut bereits angelegt, diese müsse im Vorgang des Sprechens nur noch hervorgerufen werden, also stimmlich wahrnehmbar vollzogen sein, um als seiender Laut wahrgenommen zu werden. Der vernehmbare Laut könne als verweisendes Zeichen der Seele, der Erstursache grafisch im phonetischen System des Alphabetes dargestellt werden. In der Kombination einzelner Laute, die aus den Tönen hervorgehen, würden die Wörter gebildet, die in der Übereinstimmung mit dem bezeichnenden Gegenstand das Seiende benennen. Die Gemeinsamkeit, die zugleich ein geschlossenes System von Sprache und Gegenstand initiiere, sei die richtige Anwendung der Buchstaben- bzw. Lautkombination in der Hervorbringung der Wörter sowie deren Beziehung zum Gegenstand. Um jedoch zur Idee des Tons, die jeder sinnlichen Ausformung zugrunde liege, zu gelangen, müssten die Formen als materielle Erscheinung und Gebundenheit des Tons ausgeschlossen werden. Sowohl die grafische Darstel-lung der Laut- und Buchstabenkombination t-o-n als auch die physikalischen, akustischen und pneumatischen Bedingungen, die zur Hervorbringung und zur Wahrnehmung des Tons notwendig sind, seien auf rationale Weise auszuschließen. In Bezug auf das göttliche Wort, das wiederum nur eine grafische Darstellung der Idee sei, bedeute dies die Transzendierung jeglicher materiellen Bedingung des Wortes als Lautkombination, die auf Tönen beruht. Die Darstellbarkeit des Wortes durch jegliche Form als Anteil des Seienden an der Materie und seines formalen Inhalts als Ausdruck der Idee wäre als Seiendes in seiner Seins-Beziehung als Erkenntnis der Idee des Tons, des Lautes und des Wortes ausgeschlossen. Die immanente Beschreibung, die rationale korrekte Verwendung der Wörter für diesen Erkenntnisvorgang sei jedoch für die Mitteilung der Erkenntnis unerlässlich.
Dieser geschlossenen rationalistischen Position steht die vom Wort als Ursprung ausgehende ›existenzialistische‹ Richtung des Humanismus gegenüber. Die Ge-genwart der Welt als faktischer Erfahrungsraum des Menschen und die historische Gebundenheit der Beschreibbarkeit der Erfahrungen des Menschen seiner selbst in und mit der Natur ersetzen das rational kausale Denken durch das Erforschen des Wortes als Entsprechung des existenziellen Ausgangspunktes. Das Wort werde als sprachliche Äußerung des Menschen zum Ursprung und Ausgangspunkt der sinndeutenden Vollzüge der Welt, die sich innerhalb der Geschichte vollziehen und in der Gegenwart durch jede sprachliche Äußerung neu formuliert werden.43 Geht man von der aristotelischen Bestimmung des Wortes durch Laute aus, die sich als ›weisende‹ Töne auffassen lassen, ergibt sich zunächst die Frage nach der Zulässigkeit dieser Bedeutungsübertragung. In der Bildung des Tons ist bei Aristoteles wie bei Platon ein mechanisches Prinzip von Ursache und Wirkung erkennbar. In der Beschreibung des mechanischen Prinzips geht er jedoch über diesen Zusammenhang hinaus. Die Mechanik (μηχανή) kann in ihrer Kunst44 der Kausalität entgegenwirken. Aristoteles wendet hier bereits in der Begriffswahl ein Prinzip an, das im Sinne Platons nicht zulässig wäre, nämlich eine kontextuelle Einbindung des Wortes μηχανή als Ausdruck der ihr innewohnenden Kunstfertigkeit, sich der eigenen durch sie bestimmten Anwendung eines Mittel zu entziehen.45 Diese Anwendungsmöglichkeit ergibt sich aus der sinnlichen Gebundenheit des Tones. Jeder Ton sei nur innerhalb dieser Begrenztheit als Ton wahrzunehmen, außerhalb existiere er für die menschlichen Sinne nicht als Ton. Aus dem Ton wäre die Bedeutung als Ton, der keine Buchstabenkombination t-o-n darstellt, nicht ableitbar. Diese Bedeutungsübertragung sei eine Leistung der Sprache, die in der Zuweisung einer Bedeutung für den Ton, diesen als Laut wahrnehme und ihm als Buchstaben eine Zeichenfunktion zuweise, die in der Welt hörbar erscheint. Für den hörbaren Ton bedeute die Bedeutungsübertragung eine sich immanent durch den Menschen vollziehende Erweiterung seiner Bedeutung zum Laut, die nicht aus dem Ton selbst abgeleitet werden könne. Der Ton sei in seiner grafischen Darstellung als Buchstabe, wie in seiner physikalischen Darstellung als Schwingung nicht identisch mit dem daraus abgeleiteten Laut, der in die phonetische Abfolge der Laute als Buchstaben im System des Alphabetes seinen Platz finde. Dieser Prozess deutet bereits die Kunstfertigkeit der Bedeutungsübertragung an, die Aristoteles zur Bestimmung des Lautes im Verhältnis zum Ton voraussetzt. Der Laut bleibe außerhalb des phonetischen Systems und ohne Kombination mit anderen Lauten in seiner auditiven Verfasstheit weiterhin Ausdrucksform menschlicher Äußerungen, die auch ohne worthafte Zuschreibung als Bedeutungsträger auftreten würden. Der Laut könne also auch ohne sprachlich worthafte Äußerung als Ausdrucksform wahrgenommen werden. Innerhalb der Lautfolge eines Wortes werde diese Bedeutungsebene des eigenständigen Lautes zu Gunsten der Wortbedeutung aufgegeben. Auch diese Transferleistung leite sich nicht aus dem Ton ab, sondern liege in der reflexiven Form des phonetischen Buchstabensystems der Sprache begründet. Erst durch die Lautbestimmung mit Hilfe grafischer Zeichen lasse sich die Bedeutung der Laute und Töne aufeinander beziehen, ohne sie gleichzusetzen. Damit werde das Setzen von Sprechakten, sei es in grafischer Form der Schriftzeichen oder aller illokutionärer Sprachhandlungen, in der begrenzten Anzahl der in der Sprache gebildeten Wörter zum Ausgangspunkt jeglicher Möglichkeit, unterschiedliche Dinge miteinander in Verbindung zu setzen und durch unterschiedliche Sprachbilder zu benennen. Das Spiel der Sprache als Sinndeutung der Welt sei damit eröffnet.46 Aber erst wenn diese Eröffnung, die als Selbstoffenbarung47 der Audition verstanden werden könne, sich als Poiesis (ποίησις) in die Praxis (πρᾶξις) integriere,48 also ein Teil von ihr werde, »kann man die Übertragbarkeit des Realen im Hier und Jetzt, nach dem Ort und der Zeit gewahren; andernfalls wird die Poiesis, das Tun, zum Spiel, eine Bezeugung, daß man noch nicht zur Tiefe der Realität vorgedrungen ist«. Ausgangspunkt für die sinnvolle Deutung der Welt bilde das vom Menschen in der Welt gesprochene Wort, das durch die Möglichkeit der Bedeutungsübertragung als deutendes Wort jeglicher Offenbarung, auch der göttlichen, verwendet werden könne.
* Dem vorliegenden Text liegt die Erstveröffentlichung Wolfgang Neiser, Audition in der Kunst der italienischen Renaissance, (Diss., Universität Regensburg), Regensburg 2015 zugrunde
1 Dante, Commedia, Purgatorium X, 95.
2 Vgl. Paul Otto Kristeller, Humanismus und Renaissance, Bd. 2: Philosophie, Bildung und Kunst, hrsg. von Eckhard Kessler, München 1974/1976, S. 101.
3 Karlheinz Stierle, Das große Meer des Sinns. Hermenautische Erkundungen in Dantes »Commedia«, München 2007, S. 178.
4 Vgl. ebd., S. 180.
5 Dante, Commedia, Paradiso XXIII, 62 »sacrata poema« und Paradiso XXV, 2 »poema sacra«.
6 Vgl. Günter Bader, »Theologia poetica«, in: ZThK (1983), S. 199.
7 Vgl. Ernesto Grassi, Einführung in philosophische Probleme des Humanismus, Darmstadt 1986, S. 19f.
8 Vgl. ebd., S. 20.
9 »Im Hinblick auf seine Aufgabe als Dichter und als politischer Orator – im Gegensatz zu dem was er in »De vulgari eloquentia« über die Notwendigkeit einer ahistorischen Sprache (der lateinischen) behauptet – bewertet er die »historische« Sprache. Nicht nur Dante beansprucht durch das dichterische und rhetorische Wort eine Welt – die seiner Zeit und seines Landes, also seines ›Hier‹ und ›Jetzt‹ – zu erschließen, eine Aufgabe, die nie – der traditionellen mittelalterlichen Philosophie entsprechend – als Aufgabe der Dichtung anerkannt wurde.« Ebd., S. 22.
10 Vgl. ebd., S. 24.
11 Vgl. ebd., S. 25.
12 Dante, Purgatorium X, 95.
13 »Colui che mai non vide cosa nova / Produsse est visibile parlare, / Novella a noi perché qui non si trova«. Ebd., 94–96.
14 Die tautologischen, mystischen und ästhetischen Interpretationen, die Francesco da Buti 1390 zusammenfasst, orientieren sich am exegetischen Prinzip des vierfachen Schriftsinns. Vgl. Ivan Nagel, Gemälde und Drama. Giotto, Masaccio, Leonardo, Frankfurt am Main 2009, S. 260.
15 Vgl. Stierle 2007 (s. Anm. 3), S. 182.
16 »In der Tat: ›Man hätte geschworen, dass er (der Engel) Gegrüßet seist du spricht (40). Die Jungfrau antwortet mit einer Gebärde, in die der Spruch Siehe, ich bin die Magd des Herrn so ein geprägt war, wie ein Siegel seine Figur in Wachs drückt‹ (43–45).« Nagel 2009 (s. Anm. 14), S. 53.
17 Dante, Purgatorium X, 60.
18 Vgl. Stierle 2007 (s. Anm. 3), S. 189.
19 Ob in der Gleichsetzung Gottes mit einem Bildhauer eine Anspielung auf Gen 2,7 in Verbindung mit der Auffassung von Plinius d. Ä., dass die Skulptur ein höheres Alter, und der Überzeugung Ciceros, dass die Skulptur die vollkommenste der Kunstgattungen sei, lässt sich an dieser Stelle nur vermuten. Vgl. Plinius d. Ä., Naturalis historia XXXV, § 15 und Cicero, De oratore II, 37. Diesen Verweis verbindet Sermonti in seinem Kommentar zum Purgatorium mit der Deutung, dass im Rückgriff auf Cicero und Plinius auch der Marmor als ›Übernatürlich‹ angesehen werden muss. Vgl. Vittorio Sermonti, Il purgatorio di Dante, 3. Aufl. Mailand 2007, S. 183.
20 Dante, Purgatorium X, 32–33.
21 Vgl. Nagel 2009 (s. Anm. 14), S. 65.
22 In der Umkehrung der Sinaiperikope, in der Moses die Worte Gottes in Stein meißelt (Ex 34,1–27), tritt hier Gott selbst als Bildhauer, der seine Worte in Stein (Ex 31,18) verewigt, auf.
23 Vgl. Nagel 2009 (s. Anm. 14), S. 260.
24 »Dort war der Engel, der mit dem Beschlusse des während vieler Jahre erweinten Friedens, der den so lang gesperrten Himmel auftat, zur Erden niederstieg, vor unseren Augen so wahrgebildet, mit so holdem Ausdruck, dass er nicht einem Bildwerk glich, das schweiget. Man schwüre, daß er spreche: Sei gegrüßet! Denn dargestellt war die auch, die den Schlüssel, die höchste Liebe zu eröffnen, drehte und ausgedrückt las man in ihren Zügen die Rede: Siehe, ich bin des Herren Magd, so wie in Wachse man ein Siegel abdrückt.« Dante, Purgatorium X, 34–44, zit. nach Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übers. von Karl Witte, Leipzig 1990, S. 176f.
25 Die Aussage der Verse 94–96 ist auf Dante zu beziehen. Nicht Gott ist der Schöpfer einer neuen Kunst, sondern der Grund. Sein Bildwerk veranlasst Dante zu seiner Neuschöpfung, in dem er den stummen Reliefs Stimme verleiht. Seine Fähigkeit zu sprechen, ermöglicht es ihm die Stimmen der im Relief Beteiligten hörbar zu machen. Nicht Gott spricht, sondern durch Dante spricht das Werk Gottes. Dass dieser Vorgang sehr dem Sprechen Moses nach dessen Gottesbegegnung und seinem strahlenden Antlitz in Ex 34,29–35 ähnelt mag kein Zufall sein. Letzten Endes ist die Wahrnehmung der Gegenwart Gottes an die sinnliche Wahrnehmung des Menschen gebunden, die nicht eine täuschende Nachahmung im Sinn hat, sondern eine kontextuell gebundene Neuformulierung der göttlichen Offenbarung. Vgl. Stierle 2007 (s. Anm. 3), S. 190.
26 Vgl. Bader 1983 (s. Anm. 6), S. 236.
27 Vgl. Stierle 2007 (s. Anm. 3), S. 192.
28 Das poetische Sprachereignis ist das Ergebnis des Übergangs von der übernatürlichen, im Transzendenten wurzelnden Fantasie zur die Erfahrungsgrenzen überschreitenden Ausdrucksform, die als transzendentale Fantasie bezeichnet werden kann. Vgl. Walter Bröcker, Poetische Theologie, Frankfurt am Main 1980, S. 8.
29 Vgl. Stierle 2007 (s. Anm. 3), S. 193.
30 Vgl. ebd., S. 192.
31 Aus dieser Bestimmung ergibt sich die lichtende Funktion der Dichtung, die in der Renaissance unter dem Horaz-Zitat »ut pictura poesis« zum geflügelten Wort aufstieg. Vgl. Kessler 2008 (s. Anm. 7), S. 31.
32 Vgl. ebd., S. 181.
33 Vgl. Ernesto Grassi, Kunst und Mythos, Hamburg 1957, S. 95–96.
34 Vgl. Eckhard Kessler, Die Philosophie der Renaissance. Das 15. Jahrhundert, München 2008, S. 25.
35 Vgl. Ernesto Grassi, Macht des Bildes: Ohnmacht der rationalen Sprache. zur Rettung des Rhetorischen, Köln 1970, S. 14.
36 Vgl. Kessler 2008 (s. Anm. 34), S. 76.
37 Vgl. ebd.
38 Vgl. Ernesto Grassi, Die unerhörte Metapher, hrsg. und mit einer Bibliographie des Verfassers von Emilio Hidalgo-Serna, Frankfurt am Main 1992, S. 37–39.
39 Vgl. Marsilio Ficino, Theologia platonica, hrsg. von M. Schiavone, Bolongna 1965 und Pico della Mirandola, De hominis dignitate, Heptalus, hrsg. von E. Garin, Florenz 1942.
40 »Die Wahrheit einer Aussage besteht darum nicht in der Übereinstimmung mit der in der Erfahrung gegebenen Realität der Einzeldinge und die Wahrheit einer Theorie nicht im widerspruchsfreien Nachvollzug der Struktur der erfahrbaren Welt, sondern darin, dass sie Abbild jenes göttlichen umfassenden Einen ist, das mit der Wahrheit selbst identisch ist, und dessen Allumfassendheit sie umso besser repräsentiert, je vieldeutiger und polyvalent sie ist. Mit dieser Sprachtheorie wird die Erklärung der in der Erfahrung gegebenen Phänomene als Erkenntnisziel von Philosophie und Wissenschaft durch die Erkenntnis des hinter der phänomenalen Welt stehenden göttlichen Einen ersetzt und als Weg zu ihrer Realisierung anstelle der diskursiven Theorie die kontemplative Schau gefordert, […].« Kessler 2008 (s. Anm. 34), S. 105.
41 Vgl. Grassi 1986 (s. Anm. 7), S. 149.
42 Vgl. ebd., S. 154–156.
43 Vgl. ebd., S. 157.
44 In der Wortbedeutung geht μηχανή über eine rein technische Anwendung hinaus. Als Verb umfasst es die Vorgänge des Aussinnens, Verfertigens, Vorhabens und Bereiten sowie die Anwendung eines Mittels, des sich Bemühens und Bewirkens. Als Nomen bildet es die Wortgruppe der Vorrichtung und des Werkzeugs ebenso wie im übertragenen Sinn die des Mittels, des Kunstgriffs, der List, der Art und Weise und der Möglichkeit.
45 Leon Battista Alberti wird die kunsttheoretische Reflexion der Ars mechanicae als moralisches Auseinandersetzen mit der Welt das Handwerk theoriefähig machen. Vgl. Kessler 2008 (s. Anm. 34), S. 47.
46 Vgl. Nikolaus von Kues, Dialogus de ludo globi I, n. 28.
47 παρουσία, das in seiner Bedeutung den Vorgang der Anwesenheit und des Gegenwärtig-Seins bezeichnet, kann als verzeitlichter Prozess auch die Ankunft umschreiben. Das sich Offenbaren geschieht als gegenwärtiger Prozess des Ankommens in der Gegenwart.
48 Poiesis (ποίησις) umschreibt den Vorgang des Machens als Handlung, der hinter dem vollendeten Werk zurücktritt, sobald dieses fertig gestellt ist. Während Praxis (πρᾶξις) in enger Ableitung von πρᾶγμα auf der abstrakten Ebene das Handeln selbst umschreibt und in der konkreten Ausführung auf die Tat Bezug nimmt.
49 Grassi 1992 (s. Anm. 6), S. 56.
Wolfgang Neiser