Die Strategie der Yrr
Unvollständiger Entwurf einer akustischen Aneignung von Wilhelmsburg 1
Denkt der Fisch ans Wasser? Denkt er daran, wie er darin schwimmt? Ob es kalt oder warm ist? Denkt er an die Strömung? An die Wogen, in denen er sich ununterbrochen bewegt, von denen er getragen wird und getrieben, ja, von denen er sogar durchflutet wird? Nein! Er denkt gar nicht daran. Denn er ist im Meer, mit dem Meer und durch das Meer und ohne Meer ist er nichts.
Denkt der Fisch an die Welle? Denkt er an diese riesige wogende und unüberschaubare Materie, die sich in sich verschiebt und alles in ihr und alles außer ihr Befindliche durchdringt? Mysteriös verfließen mächtige und zarte, breite und schmale, hohe und tiefe Felder, gefährliche und schmeichelnde, lockende und drohende Gewebe. Hier weich und fein wie samtgrünes Moos, dort hart, grob und schneidend wie Metall, plump und träge wie Fels und von hinten saust ein Speer. Das Fluidum umhüllt alles, wird hineingesogen, verinnerlicht und entäußert.
Die Gestalt des Meeres
Der Mensch schwimmt in einem Meer. Er wird von ihm getragen und getrieben. Siebzehneinhalb Meter messen die massivsten Wellen, die er wahrnimmt. Kurz und scharf wie die Nadeln der Tannen queren, tauchen durch, lenken ein die schrillen Strömungen, — die kleinen: siebzehn Millimeter lang. Das Fluidum umhüllt alles. Die Gestalt des Meeres ist die Form des Lebens in ihm.
Der Mensch denkt nicht daran. Denn er ist im Meer, mit dem Meer und durch das Meer und ohne Meer ist er nichts.
Ein Meer aus Schall
Der Mensch lebt in einem Meer aus Schall. Deshalb heißt er auch Person. Weil es durch ihn soniert von Anfang bis Ende. Ohne Schallmeer mit seinen Schallwellen ist der Mensch nichts.
Es nützt also nichts, wenn wir aus dem Meer einen Ausschnitt abtrennen und verbergen wollen. Die atavistische Verdrängung des selbst hervorgerufenen Lärms mittels Lärmschutz führt in einen modernen Manichäismus, der uns ohnmächtig zurückläßt. Der Lärm ist ein abgelehnter Teil unserer Gesellschaft, den wir als «das böse Andere» empfinden und bekämpfen. Je nach Situation sind wir aber abwechselnd Opfer und Täter. Denn Lärm läßt sich gar nicht definieren, höchstens höchst subjektiv als nicht erwünschten Schall. Damit könnte jeder Teil des Schallmeeres Lärm sein. Der manichäische Zugang gipfelt in den Redewendungen vom «höllischen Lärm» und der «himmlischen Ruhe».
Doch wie der Fisch weiß der Mensch nichts von dem Meer, in dem er lebt. Das ist meist auch gut so, weil die drei im Ohr angesiedelten Sinne unbewußt arbeiten, um gut funktionieren zu können. Die Trias Gleichgewichts-, Orientierungs- und Hörsinn ermöglicht dem Menschen Raumwahrnehmung, Richtungs- und Bewegungskontrolle, Positionierung im Raum und Warnung vor Gefahr. Denn das Gehör ist der Fluchtsinn schlechthin.
Doch was ist, wenn wir am und im Meer krank werden? Sollten wir versuchen, etwas dagegen zu tun? So wie die Yrr ihr Meer und damit sich selbst retten?
Zusammenschluß der Yrr
Rein ins Meer! Die Wilhelmsburger Yrr versuchen, sich ihre Welt wieder anzueignen. Es soll ein kollektiver Bewußtseins-, Wahrnehmungs- und Imaginationsraum werden. Sie wollen ihr Schallmeer als konstitutiven Lebensraum erkennen, Werkzeuge und Begriffe für seine Wahrnehmung finden und sich selbst und Veränderungen darin vorstellen. Das braucht eine akustische Raumplanung. Sie macht anschaulich, daß die akustische Umwelt beeinflußbar und gestaltbar ist, und setzt einen Identifikationsschub mit dem Stadtteil in Gang.
Strategien der Wiederaneignung
Ein anthropozentrischer Ansatz ist unerläßlich, einmal weil ein Ende der bautechnischen Lärmbekämpfung abzusehen ist und die Fokussierung auf Lärm — einer Fetischisierung gleich — den Blick verstellt. Sie führt zur Passivität. Und die macht krank, — ganz besonders im Ertragen von Lärm. Gleichzeitig betont ein anthropozentrischer Zugang die (Eigen)verantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger. Und nicht zuletzt sind die gesundheitsrelevanten Daten erschreckend genug, um neue Strategien zu suchen: Ein Drittel aller Herzkreislauferkrankungen wird auf akustischen Streß (nicht auf Lärm!) zurückgeführt. Ein Viertel bis ein Drittel der EU-BürgerInnen ist hörbehindert, das sind bis zu 166 Millionen Menschen(!). Lärm ist Zeichen sozialer Segregation («Wer arm ist, lebt im Lärm») und Lärmschwerhörigkeit nach wie vor die häufigste Berufskrankheit. Zunehmende Mobilität geht Hand in Hand mit zunehmender akustischer Belastung. Entwicklungen mit durchaus positiven gesellschaftlichen Auswirkungen sind untrennbar verwoben mit negativen Folgen für Umwelt, soziale Strukturen und die akustische Lebensumgebung. Die Themenbereiche Kosmopolität, Klimawandel und Metrozonen sind somit vernetzt mit einer akustischen Raumplanung. Wobei die Strategien sich nicht ausschließen sondern ineinander überfließen. HÖRSTADT konzipiert und moderiert diesen Prozess gemeinsam mit den Wilhelmsburger Yrr.
Generalisierung
Die Befreiung aus der Lärmfalle ist Richtschnur und die Betrachtung des gesamten Gebietes von Wilhelmsburg Bedingung. Die Überwindung des Lärmkatasters führt — dem Zürcher Beispiel von Andres Bosshard folgend — zu einem Klangplan als Basis für eine akustische Raumplanung. Hier werden Kriterien entwickelt für Klangqualitäten, also für das Wie-Sein von Schall und nicht nur für das Wie-Laut-Sein. Diese Planung ist genauso räumliche wie soziale Planung und nutzt traditionelle und experimentelle Lärmschutzstrategien, Bürgerbeteiligungs- und -aktivierungsmodelle, Bildungs- und Vermittlungsprogramme, künstlerische und politische Interventionen.
Konkretisierung
Junge Architektenteams erarbeiten in Workshops Wilhelmsburger Ruhepole (©Hörstadt). Diese öffentlichen Ruhehallen sind frei zugänglich und akustisch optimal gestaltet, selbstverständlich ohne Beschallung. Sie machen erlebbar, wie Raum und Akustik kommunizierende Gefäße sind. In ihnen kulminiert die Forderung nach ausreichend Ruheorten und Ruhezeiten in der modernen Gesellschaft.
Aktivierung
Die Aneignung des Schallmeeres erfordert die Aktivität der zur Aneignung Bereiten. Die Wilhelmsburger Yrr entwickeln ein enges, sicheres und prominentes Wilhelmsburger Wegenetz zum Gehen und Radfahren. Dieses Netz wird in einem sozialen Prozess erstellt umgesetzt, vermittelt und als Plan publiziert. Das Ziel ist die Erreichbarkeit jedes Wilhelmsburger Ortes nahezu ausschließlich über das Wegenetz.
In der Kampagne Beschallungsfrei (©Hörstadt) schließen die Wilhelmsburger Yrr Gewerkschaften, Kirchen, Initiativen, öffentliche Verwaltungen u.a. zusammen, um Orte ohne Hintergrundmusik mit dem Logo «Beschallungsfrei» auszuzeichnen. Damit wird der Wert von Beschallungsfreiheit dokumentiert, bewußt gemacht und zukünftige Beschallung erschwert, sowie die Notwendigkeit von Ruhezeiten und -orten festgehalten. Orte in diesem Sinne können sein Geschäfte, Ämter, Gastronomiebetriebe u.ä.
Partizipation
Wilhelmsburger Hörenswürdigkeiten (©Hörstadt) bezeichnen Orte, die akustisch bemerkenswert sind. Diese Orte werden bis 2013 in einem Bürgerbeteiligungsmodell ermittelt. Sei es mit Schulen, Kindergärten, Seniorenheimen oder durch Vorschläge auf öffentliche Aufrufe etc. Die Wilhelmsburger Hörenswürdigkeiten werden gekennzeichnet, in einem Druckwerk zusammengefaßt und beschrieben.
Konfrontation
Lärmschutzwände und ähnliche Maßnahmen sind nicht Gefängnismauern für das akustisch Deviante, sondern die Bruchlinien gesellschaftlicher Antagonismen. Deshalb installieren die Wilhelmsburger Yrr auffällig und regelmäßig in Lärmschutzwänden riesige Hörrohre, die das Böse zugänglich und hörbar machen, — das Böse, das wir selbst erzeugen, schwimmend im Schallmeer.
Verlärmte Orte, Orte, die die BürgerInnen meiden wollen, erden die Yrr. Akustische Disparitäten, zu große Lautstärken, extreme Frequenzen sind dem Menschen unangenehm, ängstigen ihn, erzeugen Streß. Auch deshalb, weil die akustischen Phänomene für den Menschen nicht deutbar sind. Klangbaustellen erzeugen — durch rhythmische oder tonale Integration in Sinnzusammenhänge — eine Umdeutung des Gehörten.
Vermittlung
Kinderkrippen, Kindergärten und Horte entwickeln sich nach einem Kriterienkatalog zu Wilhelmsburger Schallmeer-Kitas. Hören lernen ist das Gebot. Sie achten darauf, daß Spielzeug, geschultes Personal, Raumgestaltungen, Bewußtsein und Vokabular akustisch adäquat sind. Dies sind die Mittel um Schallmeere begreifen, beschreiben und verändern zu können. Desgleichen entwickeln sich Schulen zu Wilhelmsburger Schallmeer-Schulen.
Spektakulär wird ein Straßenbereich in Wilhelmsburg mit Dämmmaterial ausgekleidet. In der Wilhelmsburger Schallschleuse absorbieren die Fassaden somit großteils den Schall und legen die Fährte zu grundlegenden Zusammenhängen: akustische Verhältnisse entstehen durch Gebautes und dessen Volumen, Form, Material und Oberfläche, — unabhängig davon, ob geplant oder ungeplant. Die Schallschleuse erzeugt massive Irritiation und weist die Menschen auf die Bedeutung von Schallreflexion hin.
Hörspaziergänge (©Hörstadt) werden für alle Bevölkerungsteile angeboten und bringen die akustischen Qualitäten des Stadtteils umfassend nahe. Von den Ruhepolen, Hörenswürdigkeiten, Klangbaustellen, Schallmeer-Kitas und -Schulen, Hörrohren bis zu den Geheimnissen von Straßen- und Eisenbahntrassen reichen die Beispiele, die den Klangplan vermitteln helfen.
Politisierung
Akustische Agenden werden im politischen Diskurs verankert. Es braucht akustische Bewertungen zu Beginn von Planungsprozessen und als Grundlage von Ausschreibungen im öffentlichen Bauwesen und als Bedingung für öffentliche Förderungen.
Und die Blockade von Verkehrswegen: Sie kann als radikale Aneignung des akustischen Raums durch die Wilhelmsburger Yrr durchaus Folge einer Güterabwägung sein. Der Fetisch Mobilität erfährt seine Grenzen und wird — einer langfristigen und radikalen Verkehrsplanung gemäß — mit anderen gesellschaftlichen Werten abgewogen. Die Freiheit des Menschen, eine Triebfeder der Aufklärung, wird zur Zeit geopfert am Altar von Lärmschutz und Energiesparen. Passivhäuser sperren uns in Gefängnisse, deren Fenster, Türen und Wände undurchdringlich sind. Das eigene Haus verwehrt dem Menschen die Kommunikation mit der Außenwelt und macht ihn zu einem Sklaven kapitalistischer Bewegungsideologie. Die Barrierefreiheit für Hörbeeinträchtigte ist Gradmesser akustischen Bewußtseins. Genauso von eminenter Bedeutung ist Hören lernen von den ersten Tagen an. Damit machen wir unseren Kindern möglich, sich für ihren eigenen Körper verantwortlich zu fühlen, Sprache und Urteilsvermögen für das Akustische zu entwickeln, Notwendiges einfordern und politisch vertreten zu können.
Die Wilhelmsburger Yrr werden dabei die Avantgarde sein. Rein ins Meer!
1 Die Yrr sind eine fiktive, maritime, einzellige, aus Gallertmasse bestehende Lebensform aus dem Buch «Der Schwarm» von Frank Schätzing. Die Yrr treten aber in der Regel nie als Einzeller auf, sondern befinden sich nahezu kontinuierlich in einem zellulären Zusammenschluss. Sie verfügen dann über «Kollektivbewusstsein» und «Kollektivintelligenz» und können strategisch denken.
Peter Androsch
In: Metropole: Metrozonen 4, Hg. IBA Hamburg. Berlin. 2010.