Hören, Horchen und Gehorchen
Der politische akustische Raum
Alles was wir hören: das ist der akustische Raum, der uns umgibt, wo auch immer wir sind und was auch immer wir tun. Über den Hörsinn bewohnen wir eine faszinierende Sphäre, reich an Gestalten und Widersprüchlichkeiten. Sie ist gleichzeitig klein wie eine intime Kammer und weit wie eine riesige öffentliche Agora, verlärmt und still, akustisch aufregend vielfältig und trostlos monoton. Dieses Kontinuum des Flüchtigen — denn was wäre flüchtiger als Schall? — erzeugen wir ganz maßgeblich dadurch, was und wie wir produzieren, wie wir uns fortbewegen, wie und was wir akustisch konsumieren.
Ob wir in unsere hörbare Umwelt eingebettet sind oder ob wir sie erleiden, hängt ganz wenig von unserem persönlichen Empfinden und ganz stark von unserer Stellung in der Welt, also von unserer sozialen Position ab. Der akustische Raum ist ein politischer Raum, der so gut wie nie als solcher verstanden wird. Die Frage nach unseren akustischen Lebensbedingungen ist eine politische Frage, die nur selten als solche gestellt wird. Mag es sich nun um ein in der Menschenrechtskonvention oder der Verfassung garantiertes Grundrecht handeln oder nicht: Der Anspruch auf saubere Luft und reines Wasser ist eine zivilisatorische Selbstverständlichkeit. Der Anspruch auf eine menschenwürdige und menschengerechte akustische Umwelt aber mutet geradezu exotisch an, wohingegen die Verlärmung des Alltags und damit seine akustische Verödung vielfach schulterzuckend als unvermeidlicher Kollateralschaden unserer Arbeits- und Lebensweisen hingenommen wird.
Schallpegeln jenseits der Grenzwerte
Spätestens seit einer Richtline der Europäischen Union zum ‹Umgebungslärm› — dem Lärm im Freien — sind die größeren Städte Europas lärmkartiert. Für jede und jeden ist zumeist auf den Webseiten der jeweiligen Stadtverwaltung nach- und einzusehen, welchen durchschnittlichen Lärmbelastungen welche Stadtteile zur Tages- respektive Nachtzeit ausgesetzt sind. In einer Mittelstadt wie Linz leben je nach Definition 30 bis 40 Prozent der Stadtbevölkerung mit Schallpegeln jenseits der Grenzwerte. Die zuständigen PolitikerInnen und BeamtInnen wissen es und quittieren die Information mit einem kurzen Nicken. Was zu tun wäre, weiß niemand.
Die auf den Lärmkarten weil übergebührlich lärmbelastet rot eingefärbten Stadtareale entlang von Durchzugsstraßen und Stadtautobahnen bezeichnen indes mehr als ein «Umweltproblem». Sie bezeichnen das soziale Problem der menschlichen Lebensbedingungen. Wo es laut ist, bewegen sich die Mietniveaus und Immobilienpreise talwärts und werden für Alleinerzieherinnen, für MigrantInnen, für die wenig und gar nicht Begüterten erschwinglich. Wer arm ist, lebt im Lärm. Wer im Lärm lebt, büßt die leistbare Miete oder Wohnkreditrückzahlung mit unausgesetztem Stress, erhöhtem Blutdruck und Herzinfarktrisiko, Schlafstörungen, ständiger Müdigkeit und Gereiztheit, gesenkter Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit, niedrigerer Lebenserwartung und akustischer Desensibilisierung.
Eine deprimierende Liste, die Kurt Tucholskys immer noch wahre Feststellung in Erinnerung ruft, dass man einen Menschen eben auch mit einer Wohnung erschlagen könne. Das Wort «lärmarm» darf in diesem Sinn durchaus auch sozial verstanden werden.
Kinder, die im Lärm aufwachsen, können in der Schule oft nicht mithalten und landen ohne höhere Bildung erst recht wieder im Lärm. Die Verhältnisse perpetuieren sich. (Auch) Wer (den Lärm) nicht hören will, muss (ihn) fühlen. Was für die Wohnung gilt, gilt erst recht für den Arbeitsplatz: Imposante zwei Drittel der für die Erstellung des Arbeitsgesundheitsindex 2009 der Arbeiterkammer befragten unselbstständig Beschäftigten bezeichnen die akustische Situation an ihrem Arbeitsplatz als belastend; ein ganzes Drittel sogar als sehr belastend. Nur 30 Prozent der österreichischen Arbeiterinnen und Angestellten empfinden ihr Arbeitsleben als akustisch angenehm. Die Arbeitsmedizin bestätigt es: Lärmschwerhörigkeit ist die Berufsfolgeerkrankung Nummer eins.
Unschwer lässt sich so sehen, wie sehr die akustische Frage auch, sagen wir es einfach so, eine Klassenfrage ist. Der Gehorsam kommt vom Hören, und wer unselbstständig beschäftigt ist, muss zwar nicht mehr so schrankenlos wie die Leibeigenen im Feudalismus oder die TextilarbeiterInnen in Manchester im 18. und 19. Jahrhundert, aber immer noch gehorchen.
Kein Telefon haben zu müssen, ist Ausdruck allerhöchster Macht in einem Unternehmen. Ruhige Arbeitsplätze sind das Privileg vor allem der besser verdienenden KopfarbeiterInnen; Ruhe ist ein teuer bezahlter Mehrwert unter anderem auf den Wohn-, Urlaubs- und Hausgerätemärkten. Die Nachfrage ist groß, das Angebot begrenzt, der Preis also dementsprechend.
Das Faustrecht des Stärkeren
Die öffentliche Sphäre insgesamt ist ein akustisches Schlachtfeld, auf dem das Faustrecht des Stärkeren gilt. Im Wilden Westen des Hörens, der lediglich eine heillos zersplitterte, unübersichtliche und wirkungslose Lärmschutzgesetzgebung im engsten Sinne kennt, werden Territorialansprüche hörbar markiert: Von den Teenagern mit ihren MP3-fähigen Smartphones bis zum Lebensmittelkonzern, der die KundInnen in seinen Filialen zwangsbeschallt.
Die Wut derer, die den akustisch unerträglichen Bedingungen aus ökonomischen und sozialen Gründen gehorchen müssen, ist groß. Die ersten Amokläufe Lärmbelasteter hat es bereits gegeben, und vor Gericht häufen sich akustisch bedingte Nachbarschaftskonflikte in Sachen Freizeitlärm. Die LenkerInnen der vorbeibrausenden Autos sind anonym; der Lärm des Nachbarn mit dem unmöglichen Musikgeschmack und dem lauten Fernseher hingegen hat einen Namen und eine Adresse und darf den Kontrahenten im Stellvertreterkrieg geben.
Florian Sedmak