Im Schallwellenreich
Die Magie des Klangs
Gäbe es eine Theorie der akustischen Hegemonie, dann würde sie sich vornehmen, im Akustischen die Spuren der Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft zu erkennen, oder vielleicht sogar im Akustischen die Grundfesten der Herrschaftsverhältnisse freizuschaufeln und die feinen Klanggewebe sichtbar zu machen, die sie ausmachen und in welchen sich die Gesellschaft verhaspelt und verhängt und der Einzelne zappelt wie in einem Spinnennetz.
Eine Theorie der akustischen Hegemonie würde sich einreihen möglicherweise als fester Teil in eine Trias aus der «Theorie der kulturellen Hegemonie» von Antonio Gramsci aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts, aus Pierre Bourdieus «Feine Unterschiede» und würde diese wiederfinden im Hörbaren und sie fortschreiben als Rekapitulation des gesellschaftlichen Status des Einzelnen im Klang.
Hier sähen wir auch Jacques Attalis Repräsentationsgedanken, ausgedrückt über die Epochen der Geschichte bis zur lähmenden Lärmfrage der Gegenwart und die Marionettenschnüren gleichen Hintergrundmusiken im kapitalistischen Waren- und Dienstleistungsgetriebe.
Und immer wieder kämen wir auf der Suche nach der Herrschaftspotentialität akustischer Ereignisse zum Kern. Immer wieder kämen wir im Kern auf die Magie des Klangs. Er wirkt mit und gegen die Zeit, a-, ja, antichronologisch. Sein Bedeutungsraum dehnt sich mit der Zeit und gegen die Zeit aus. Magisch kann Klang selbst Vergangenes auf-, ab- oder umwerten, geschehen oder ungeschehen machen. So wie ein Ton in der Musik dem vorhergehenden Bedeutung schenkt, auf ihn hindeutet, gegen die Zeit mit Wert bedenkt, tut das akustische Ereignis das, was vor uns war, und das, was nach uns sein wird, auf und belegt es mit Bedeutung und Wert.
Das akustische Ereignis deutet nach vorne, nach hinten, nach oben, nach unten, nach links und rechts. Es breitet sich horizontal und vertikal zu einer Klangsphäre aus, ohne die die gesellschaftliche Hegemonie nicht grundgelegt und entfaltet werden könnte.
So wie der Fisch in den Wellen schwimmt, so wie der Fisch vom Meer keine Ahnung hat und erst recht dadurch Beweis der Herrschaftsmacht Neptuns ist, so sind wir Personen als durch-klingende Schwimmer in dem Schallwellenreich der Herrscher des Jetzt.
Neptun bestimmt die Wellenstärke, die Wellenlänge, die Strömungen, die im großen weiten Meer das Leben der Fische bestimmen. Und die Eschatologie des fischigen Wellenmeeres gipfelt in der Apokalypse, in der Vorstellung, dass Neptun den Abflussstöpsel am Grunde des Meeres zöge und das Existenzfluidum der Wellenfische vernichtete. Eine Wellenapokalypse.
Gäbe es eine Theorie der akustischen Hegemonie, dann sähen wir die Ver-antwortung jener neptungleichen Schallwellenschöpfer, die unsere personale Existenz bestimmen, von unserer akustischen Lebensumgebung bis zu unserem Denken, das wir als gedachten Klang des gedachten Wortes in unseren Köpfen tragen.
Hörstadt versucht seit 2006, die Bedeutung unserer akustischen Umwelt bewusst zu machen, den akustischen Raum zu politisieren und mittels einer Vielzahl von Veranstaltungen und Projekten gesellschaftlich breit zu wirken. www.hoerstadt.at
Peter Androsch
In: Spuren, Schwaz. Mai 2010.