Schall – Raum – Macht.
Klangräume des Abendlandes ¹
Akustik
Als die Lehre vom Schall und seiner Ausbreitung — oder allgemeiner und zugleich doch genauer gesagt: die Lehre von den Eigenschaften der Schallwelle(n) – bezieht sich die Akustik auf etwas zwar Körperliches, dennoch aber Ephemeres, etwas, das in einem visuellen Verständnis als unvorstellbar, als nicht darstellbar zu bezeichnen ist. Vorstellbar macht — durch Hervorbringung — akustische Phänomene z.B. derjenige, der eine (künstlerische) Tätigkeit im Bereich der Schallwelle ausübt, ein Komponist etwa. Dem vorausgehen muss zunächst eine Bewusstmachung dieser Phänomene: Das kann konkret erfolgen oder in Form einer Reflexion auf deren Wesen, zumal im Hinblick auf den Menschen: Was bedeuten diese Phänomene für menschliche Beziehungen? Wie steht der Mensch zum Schall?
Menschliche Person — persönlicher Gott
Der Mensch ist ein «Durchklinger». Die Begriff der Maske (persona) des antiken Theaters, etymologisch bereits in der Antike hergeleitet von per-sonare (durch-klingen) 2, kennzeichnet und wird genommen für den ganzen Menschen, das Individuum. Darin drückt sich die Vorstellung, mehr noch: das klare Bewusstsein aus, dass der Mensch ein «akustisches Wesen» ist: Es nimmt Schall(wellen) auf und gibt Schall(wellen) ab — und tritt so nicht nur mit seiner Umwelt in Beziehung, sondern wird dadurch im vollen Sinn des Wortes wesentlich. Dass akustische Präsenz zugleich die Präsenz der Person bedeutete, zeigt sich u.a. darin, dass die Nennung des Namens — also die Anwesenheit des Schalls — die Person selbst, und sei diese auch tot, herbeirief und (bei Zeremonien oder etwa bei Gerichtsverfahren) anwesend sein ließ: der Klang des Namens, der Schall ist der Mensch.
Aber nicht nur die Beziehung der Menschen untereinander, auch die Beziehung zum Transzendenten ist, zumal in der monotheistischen Vorstellung vom persönlichen Gott, eine akustische. Denn wird das göttliche Wesen personal vorgestellt, dann tritt es mit den Menschen vermittels Schall(wellen) in Beziehung, offenbart sich dem Menschen als Wesen eben dadurch, dass es akustisch präsent wird. Der Schöpfungsakt ist das gesprochene Wort, der brennende Dornbusch offenbart den Namen Gottes (Ich bin der: «Ich bin da»); der Mensch wiederum ruft Gott an.
Die personale Existenz prägt in dieser unserer Tradition das gesamte Bild des Menschen wie auch Gottes.
Mensch als «Schallwesen» — nur Metaphorik?
Phylogenetisch ist der Hörsinn ein Warnsinn; anders als den Sehsinn können wir ihn nicht kontrollieren, können ihn als Raumsinn auch nicht dem gerichteten Blick entsprechend auf ein begrenztes Feld fokussieren: das Gehör liefert (schon im Mutterleib) ununterbrochen Informationen, die wir zur Orientierung in der Welt verarbeiten. In diesem Sinne sind wir ihm schutzlos ausgeliefert, noch mehr aber deshalb, weil die Welt ununterbrochen akustisch an uns herantritt — eine völlige Abwesenheit von Schall gibt es nicht.
Durch Nachahmung des Gehörten erlernen wir das Sprechen, bilden so einen inneren Klangraum aus, der auch der Raum unseres Denkens ist; oder anders gesagt: Denken als Ausfluss des Spracherwerbs ist die Schaffung eines inneren Klangraums, Denken ist durch und durch akustisch geprägt. Der Sprechvorgang, das also, was uns mit anderen Menschen in Beziehung bringt und worin sich menschliche Beziehungen entwickeln, ist ein akustischer Vorgang: Schall ist Voraussetzung der Sprache, Sprache bedarf der Akustik. In diesem Sinne ist der Mensch ein «Schallwesen» — nicht bloß ein akustisches (ein hörendes) oder ein tönendes Tier, wie man in Abwandlung von Aristotelesʼ Diktum sagen könnte, sondern eines, das beides in sich vereint, das Schall aufnimmt und abgibt, das sich vermittels Schall orientiert und als es selbst mitteilt.
Mit Schallwellen stiften wir andere und tiefere Beziehungen als mit visuellen Phänomenen, kommunizieren auf einer tieferen Ebene 3 — wobei auch diese tiefere Ebene selbst noch in die Tiefe gestaffelt vorgestellt werden kann: Blinden Menschen etwa sind Dimensionen des Akustischen zugänglich, die sich einem Sehenden auf diese Weise nicht erschließen. Diese Tiefe akustischer Beziehungen ist auch die Basis künstlerischer Entscheidungen, bei denen es darum geht Beziehung, Verhältnisse, Proportion herzustellen: im audiovisuellen Bereich sowieso, in der Klanginstallation vornehmlich und in der Komposition ausschließlich.
Mensch — Raum — Zivilisation
Der Mensch ist als «Schallwesen» eine personale Existenz, eine Existenz, die sich im Abgeben und Aufnehmen von Schallwellen im Raum in doppelter Weise positioniert: Indem sie sich im Raum orientiert und die eigene Position im Verhältnis zum Raum und dessen Eigenschaften bestimmt. Aber auch, indem sie sich selbst als Existenz, als Person, als Individuum positioniert — und damit als beziehungsfähiger Mensch zur Kenntnis bringt, sich ausspricht und ansprechbar, hörbar und für zu Hörendes offen wird.
Ununterbrochen erfolgt über das dreidimensionale Richtungshören die Positionierung des Menschen im Raum. Über Schallwellen werden Geschwindigkeiten, Entfernungen, Beschleunigungen wahrgenommen, wird der umgebende Raum aufgenommen. Jeder Raum reflektiert auf je spezifische Weise Schallwellen — jeder Raum, ob natürlich oder gebaut, ob offen oder geschlossen, teilt über diese Reflexion entsprechend seinem Volumen, seiner Form, seinem Material und seiner Oberfläche etwas mit: was — oder sogar: wer — er ist. Dieser Dialog mit dem Raum, in der Akustik spricht man in diesem Zusammenhang von «Raumantwort», ist für den Menschen existenziell. Der dauernde Aufenthalt in einem «schalllosen» Raum 4 bedeutet daher eine massive Verunsicherung: Die Sinnesintegration, die Zusammenfügung der Sinnesdaten zu einem sinnvollen, kohärenten System ist durch Ausschaltung bzw. Dämpfung der «Raumantwort» gestört; auch ein «Hallraum» 5 übrigens stört diese Integration. Wo visuelle und akustische Wahrnehmungen nicht länger in Übereinstimmung gebracht werden können, kippt die Sinnesintegration; die Folge sind eklatante körperliche Erscheinungen. Visuelle Data alleine reichen zur Orientierung nicht aus — die menschliche Raumwahrnehmung ist eminent akustisch bestimmt.
Eine aufgrund gelungener Raumwahrnehmung erfolgte doppelte Positionierung des Menschen im Raum — sicher orientiert und als Person wahrnehmbar — ist Grundlage für das akustische In-Beziehung-Treten der Menschen und den gelungenen akustischen Austausch untereinander. Für jede Form der Zivilisation ist dieser akustische Austausch grundlegend. Je höher eine Zivilisation sich entwickelt, je weiter die Elaboration der Gesellschaft voranschreitet, desto zentraler wird die Frage der Räume des Austauschs.
Akustische Architektur
Welche Räume sucht der Mensch auf, um den akustischen Austausch zu gewährleisten? Wer gestaltet die Räume dieses Austauschs? Architektur als Gestaltung von Räumen ist ganz erheblich akustisch zu verstehen, denn sie ist aus Raumwahrnehmung entstanden und damit ein «Kind der Akustik» 6 — und ihre Aufgabe war und ist die Herstellung von Räumen, wo Austausch möglich ist. Man kann fragen, ob für eine höhere zivilisatorische Entwicklung nicht auch vorgefundene, natürliche Räume ausreichen, die der Mensch aufsucht. Freilich gibt es solche Räume — und zweifelsohne wurden diese auch genutzt. Doch ist der Zusammenhang zwischen zivilisatorischer Entwicklung und Schaffung akustisch geeigneter Räume nicht so aufzufassen, dass der rechte Raum bloß die Voraussetzung des Austauschs ist — vielmehr besteht die zivilisatorische Entwicklung gerade auch darin, dass mit ihr ganz entscheidend (in einem interdependenten, dynamischen Prozess) die Gestaltung des akustischen Austauschs selbst vermittels der Gestaltung von akustischen Räumen verknüpft ist. Anders gesagt: Architektur bestimmt die Qualität des akustischen Austauschs, entscheidet darüber, ob sich Menschen als Personen, als «Schallwesen» begegnen und sich austauschen können.
Darin hat es die Architektur durch die Jahrhunderte zur Meisterschaft gebracht und das Praxiswissen immer weiter und höher entwickelt. Als ein Gipfelpunkt ist hier der Historische Sitzungssaal im Parlament in Wien zu nennen. Dass auch ein ungeschulter Redner von bis zu achthundert Zuhörern anstandslos verstanden wird, hat Theophil Hansen durch Reflexion bewerkstelligt — durch die Nutzung der Reflexion des Raumes, durch Reflexion auf Grundbedingungen und -aufgaben von Architektur, und schließlich durch Nachahmung architektonischer Vorbilder, in denen das Praxiswissen von Jahrhunderten gespeichert ist.
Taube Architektur?
Angesichts dieses Befundes verwundert es, dass die Architektur zu einer tauben Disziplin verkommen ist. Im heutigen Bauwesen wird die Reflexion des Raumes nicht als eine zu gestaltende Grundgegebenheit, sondern vielmehr als das Störende empfunden — wenig überraschend, denn die «akustische Wurzel» der Architektur ist nicht bewusst oder wird nicht weiter reflektiert. Peter Zumthor führte gelegentlich eines Gesprächs diese Taubheit auf eine Zersplitterung der Disziplin zurück. Die einzelnen Bauaufgaben würden delegiert und ausgelagert, dementsprechend fühle sich der Architekt auch nicht mehr zuständig für die Akustik, und das, obwohl alle seine Entscheidungen bei der Raumgestaltung die Akustik bestimmende sind: Volumen, Form, Material, Oberfläche. 7
Festzuhalten bleibt demnach zweierlei: Jede Raumgestaltung ist akustische Raumgestaltung. Und: Die Essenz eines jeden Raumes — das, was dem Raum wesentlich eignet — ist das «Schallwellenmeer», das von den Raumbegrenzungen umgeben wird.
Wenn Architektur als «gefrorene» oder «erstarrte Musik» bezeichnet wird, 8 so trifft es eine andere Formulierung besser: Architektur ist gefrorener Schall.
Räume für Personen
Jeder Mensch hat eine Stimme — und jeder Mensch soll Gehör finden, soll sich positionieren können. Dafür braucht es geeignete Räume, Räume für Personen. Solche also, wo es gelingt, dass der Mensch in seinen Beziehungen zu anderen Menschen (d.h. etwa in der Sphäre des gesellschaftlichen und politischen Lebens) wahrhaft Mensch ist, Person, Individuum. Der Architekt ist Baumeister der Demokratie, wenn er Räume schafft, die dem Wesen des Menschen als «Schallwesen» entsprechen; baut er Räume, die das verunmöglichen, wird er in der Verfehlung einer der vornehmsten Aufgabe der Architektur — vielleicht unbewusst, aber dennoch: — Handlanger des Inhumanen, der Herrschaft des Autoritären, ja der Diktatur.
In der Architektur der letzten 20 Jahre beispielsweise, insbesondere bei repräsentativen Bankengebäuden mit ihren «transparenten» Glasfassaden, wird Schall als unzulässiger Eindringling betrachtet. Was bedeutet das? Auch der Mensch mit seinen Fragen und Anfragen dringt nicht durch, auch der Mensch als «Schallwesen» wird abgewiesen. Die vorgebliche (nur rein visuell gedachte) Transparenz der Glasfronten bestätigt in ihrer unausgesetzt antwort- und auskunftslosen Reflexion nichts als die Ausgesetztheit und Verunsicherung des vereinzelten Menschen. Weder von außen, angesichts der Architektur, noch im Inneren, von den Räumen umschlossen, sagt uns diese Architektur, sagen uns diese Räume etwas, geben sie etwas von sich preis. Man muss hier auch die Strategien der Bau- und Raumakustik als auf breiter Front gescheitert betrachten: Selbst Räume, denen eine bestimmte akustische Funktion zukommt (z.B. Hörsäle und Klassenzimmer), sind akustisch desolat — und damit ist auch eine Person in diesen Räumen vereinsamt und verlassen.
Klanglichkeit und Raumantwort
In der Klanglichkeit eines Raumes als die Summe seiner akustischen Eigenschaften, in dem, was als sein akustisches Wesen zu bezeichnen ist, wird seine Eignung für demokratische, humane Beziehungen hörbar. Der Raum formt aktiv den Schall und gibt eine Antwort — dem Schallimpuls im Raum folgt die «Raumantwort». Welche Antwort gibt der Raum? Ist die Antwort «autoritär»? Ist es eine, die den Menschen im Raum zur Geltung bringen kann?
Festzuhalten ist, dass es keine per se gute Akustik gibt, sondern nur eine gute Akustik im Hinblick auf einen bestimmten Zweck: Ein Amphitheater als Arena des gesprochenen Wortes stellt Architekten und Baumeister vor eine andere Aufgabe als der Kirchenraum. Der Baumeister der Romanik hatte andere Kriterien zu bedenken — und musste andere Kriterien entwickeln: Er sollte Räume für Choräle schaffen, die sich wie ein Fluidum in die Kirche ergießen, ohne zugleich ihre Quelle zu offenbaren. Die Abstimmung der Kirchenräume auf diese Aufgabe hat mit dem dabei immer weiter entwickelten praktischen Wissen, wie solche Räume zu gestalten sind, eine in außereuropäischen Kulturen unbekannte Tradition des polyphonen Gesangs hervorgebracht. 9 Vergegenwärtigt man sich, dass es Kirchenräume gibt, in denen ein Mönch mit sich selbst aufgrund des Nachhalls einen polyphonen Gesang anstimmen kann, so lässt sich geradezu sagen: Architektur hat diese Tradition (mit)hervorgerufen.
Kunst
Ob der in jüngster Zeit in verschiedenen Wissenschaften ausgerufene acoustic bzw. sonic turn 10 einen tieferen Nachhall auslöst oder schon bald wieder vom nächsten «epochalen» turn übertönt (und überschrieben) wird, bleibt abzuwarten. Wäre es aber nicht auch eine lohnende Aufgabe, eine akustische Kunst weiter zu entwickeln? Nicht eine, der es darum geht, dem uns umgebenden «Schallwellenmeer» neue Inhalte hinzuzufügen, sondern eine, die Akustik in ihrer Bedeutung für den Menschen und damit die Grundgegebenheit des Menschen als «Schallwesen» künstlerisch reflektiert — als neue und eigentliche Soundart.
Und der Architekt als Künstler? Sollte er sich nicht endlich als akustischer Künstler verstehen und so wieder den Raum und den Menschen in seinen akustischen Grundbedingungen einholen? Könnte vielleicht auch die Beschäftigung mit der Geschichte — zu denken ist etwa an die akustischen Reflexionsstudien eines Athanasius Kircher (1602–1680) — eine neue alte Sensibilität wieder hervorrufen?
1 Für das Mitschreiben bei meinem lauten Denken und sein Mitdenken beim leisen Niederschreiben danke ich Reinhard Kren.
2 Die sprachwissenschaftliche Haltbarkeit dieser Etymologie ist allerdings eine andere Frage. Vgl. dazu etwa Teichert D., Personen und Identitäten (Quellen und Studien zur Philosophie 48), Berlin u.a. 2000, 90–93.
3 Es geht hier nicht darum, einen Sinn auf Kosten eines anderen zu prämieren oder eine Hierarchie der Sinne aufzustellen – lediglich die Bedeutung des Schalls für den ganzen Menschen soll herausgestellt werden.
4 Der treffendere Terminus der Akustik ist «reflexionsarmer Raum», denn einen völlig schalllosen, einen schalltoten Raum gibt es eigentlich nicht.
5 Dieser kann auch als «hyperakustischer Raum» bezeichnet werden, analog zum Krankheitsbild der Hyperakusis.
6 Die Herleitung der Architektur aus einer bloßen Schutzfunktion scheint mir ebendies völlig auszublenden – und Architektur so gerade im Raumaspekt zu verfehlen.
7 Vgl. Androsch P., Gegner, Personen, Wesen. Gedanken zum Parlament als akustischer Raum, in: UmBau 27 (2014), Sonderausgabe: Biennale Venedig 2014, 116–123.
8 Der Ursprung dieses Bildes lässt sich in die Frühromantik zurückverfolgen, findet sich zustimmend bei Schelling und Goethe, ablehnend bei Schopenhauer. Vgl. Naredi-Rainer P., Gefrorene Musik – flüssige Architektur. Facetten eines komplizierten Verhältnisses, in: Brandt S./Gottdang A. (Hg.), Rhythmus. Harmonie. Proportion. Zum Verhältnis von Architektur und Musik, Worms 2012, 15–19.
9 Freilich begegnen in nicht-europäischen Musiktraditionen äußerst elaborierte und hochkomplexe Strukturen, nicht aber in vergleichbarer Form im Bereich der Polyphonie.
10 Vgl. etwa Meyer P. M. (Hg.), Acoustic turn. Symposion «ə’ku:stik tə:n», Muthesius Kunsthochschule Kiel, 4. bis 7. Mai 2006, München u.a. 2008; kritisch zu diesem «turn» Volmar A./Schröter J, Einleitung: Auditive Medienkulturen, in: dies. (Hg.), Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld 2013, 9–34.
Peter Androsch