Traube
ein Versuch über audiovisuelle Sprache
Ernst Jandls einziger Film Traube (1971) folgt einem avantgardistisch-dekonstruktivistischen Prinzip: Er kann als Spielfilm ohne Handlung, als Tonfilm ohne Sprache, ja streckenweise ohne Ton, und als Film mit Bildfolgen beschrieben werden, die keinen gängigen Montagecodes, vielmehr musikalischen Prinzipien der Permutation und der Variation zu folgen scheinen. Auch mit einigen in der Institution Fernsehen fest etablierten Arbeitsteilungen räumt Traube auf. Jandl schrieb und realisierte den Fernsehfilm zusammen mit Friederike Mayröcker und dem Hörspielregisseur Heinz von Cramer. Das Bestreben, Traube gemeinsam im Sinne einer Autorenschaft zu signieren, die nicht zwischen Schreiben und Filmemachen unterscheidet, findet zunächst im Briefverkehr mit dem zuständigen Redakteur des WDR seinen Ausdruck. Jandl unterstreicht dort, dass «für den Film alle drei als Urheber zeichnen, ohne Trennung in Drehbuch und Regie» 1. Dieses Ansinnen schlägt sich schließlich in der graphischen Präsentation der Filmtitel nieder: Die drei Namen werden, von Sternen interpunktiert, ohne erkennbare Hierarchie in einem Reigen animiert, bevor der Titel «Traube» in der Mitte des typographisch geformten Kreises erscheint. 2
Der etwa 45-minütige Fernsehfilm Traube besteht aus drei unterschiedlich langen Teilen. Im ersten, etwa zwanzigmütigen Filmsegment sind verschiedene Serien von Einstellungen nicht in einem narrativen oder logischen Zusammenhang verknüpft, sondern nach permutativen Prinzipien. Die Montagestruktur wird im Drehbuch denn auch entsprechend erläutert und mit kompositorischen Angaben wie «x+1, x+2» notiert. Fünf Motive erscheinen hier entweder in unbewegten Einstellungen, variiert nach Einstellungsgrößen, oder aber in einer Art bewegten Progression. Diese Motive werden sukzessive nach immer komplexeren Folgen und Kombinationen miteinander verwoben. Das erste «Element» (so der Begriff laut Drehbuch) etwa zeigt vor neutralem Hintergrund eine ausgestreckte Hand über einer Weintraube in unterschiedlichen Stadien des Verzehrs; das zweite Element, das Jandl/Mayröcker/Cramer im Entwurf «Eier-Sequenz» nennen, das jedoch keine Sequenz im filmsprachlichen Sinne bildet, hat wie die Traube ebenfalls die «Funktion eines Zählelements» 3 inne, das figürlich darstellbar ist: Während die Beeren auf der Traube sich stetig vermindern, wächst die Zahl der Eier von Einstellung zu Einstellung jeweils an und erlaubt außerdem figurative Variationen. Die von den Autoren so genannten «Bewegungssequenzen» bilden im Unterschied zu den ersten beiden Serien keine Bewegungen durch Differenzen zwischen den Bildern, sondern primär Bewegungen des Bildes oder im Bild. Es handelt sich zunächst um einen Cowboy oder vielmehr dessen von rechts nach links regelmäßig über Wüstensand schreitende gestiefelte Beine, in entsprechend gleichförmigen Kamerafahrten und in unterschiedlich nahen Einstellungsgrößen gefilmt (Element 3); dann um eine Henne im Freien, ebenfalls in unterschiedlichen Einstellungsgrößen von nah bis total kadriert (Element 4); schließlich um eine Bäuerin in ihrer Landküche, die bei verschiedenen Verrichtungen wie beim Hantieren mit einem Eimer meist in Totale gezeigt wird (Element 5). In diesem nach bestimmten arithmetischen Strukturprinzipien montierten ersten Teil gibt es keinen Ton, allerdings teilweise Farbe, die bewusst piktorial eingesetzt und in ihrer symbolischen Funktionalität ausgestellt wird: Gelb für den Eierhaufen, über den der Cowboy am Ende steigt, Rot für das Blut der geschlachteten Henne, Orangerot für den Sonnenuntergang im Zeitraffer, der den Abschluss des Westerner-Motivs wie insgesamt des ersten Teils bildet.
Der zweite Teil des Films dauert nur wenige Minuten und steht motivisch zunächst in keinem Zusammenhang mit dem ersten Teil. Hier wird ein Ton eingeführt, allerdings nicht als Synchronton, sondern in der Tradition eines «silent-with-sound»-Films, wie er schon vor der Einführung des Tonfilms bestand, nämlich als Stummfilm mit Begleitung in Form von verschiedensten asynchronen Geräuschen und Musik. 4 Im Drehbuch bezeichnen die Autoren diesen Teil als «groteske Achse», in die Musik einfällt. 5 Zu sehen ist ein voller Konzertsaal mit Orchester, Dirigent und Publikum. Zu hören ist zunächst keine Musik, sondern ein immer lauter werdendes Spuckgeräusch, dessen Quelle erst gegen Ende der Sequenz sichtbar wird, in Gestalt eines riesigen Mundes. Während die Quelle des traditionellen Konzerttons von Beginn an sichtbar ist, wird dieser erst zu Ende der Sequenz hörbar. Jandl/Mayröcker/Cramer kehren hier das vorherrschende Prinzip von Filmmusik um, deren Quelle meist wie in einem Orchestergraben (Michel Chion 6) verborgen bleibt und in keinem diegetischen Zusammenhang mit der Handlung steht.
Der dritte Teil des Films, der nur wenig kürzer als der erste ist, wurde großteils in Farbe gefilmt und ist ebenfalls mit asynchronem, sporadisch auftretendem Ton ausgestattet, der in Form von Collagen eingesetzt wird. Jandl spielt hier einen durchschnittlichen, unauffällig gekleideten Mann, der sich in ein Lederfachgeschäft begibt, um einen Koffer anzukaufen. In seinem bescheidenen Hotelzimmer überprüft der Käufer geradezu zwanghaft die Tauglichkeit des erstandenen Gebrauchsgegenstandes, indem er seine Kleidungsstücke immer neu faltet und einräumt.Mehrmals wird das Stück im Laden umgetauscht, was den Mann zu weiteren Wiederholungen des Packversuchs veranlasst. Schließlich wechselt der Film nochmals von Farbe zu Schwarzweiß. Die mobile Kamera begleitet den Kofferkäufer in die weiten Wartehallen eines Flughafens, wo sie ihn aus dem Auge verliert. Flugmaschinen suggerieren am Ende den Reiseantritt. Im Drehbuch sprechen die Autoren im Hinblick auf diesen dritten Teil von «nicht mehr typisierten, sondern charakterisierten Personen» 7 . Sie geben der Intention Ausdruck, für den Zuschauer gleichzeitig die Möglichkeit einer Distanzierung (durch das Bild-Ton-Verhältnis) und einer Identifikation (in der Darstellung der Figur) zu eröffnen. Mit «Typisierung» im zweiten Teil sind wohl die Figuren des Dirigenten und des Störenfrieds gemeint, der im Nachspann als «Konzertspucker» angeführt wird. Was Jandl/Mayröcker/Cramer hier als «charakterisierte Person» im dritten Teil bezeichnen, zielt augenscheinlich auf die visuelle Inszenierung einer Figur, die den Zuschauer über die haptische Dimension der alltäglichen Verrichtungen affiziert, keineswegs aber auf Dialoge, die auch in diesem Teil nicht vorgesehen beziehungsweise nicht zu hören, allenfalls als leere Mundbewegungen zu sehen sind.
Es wurde wiederholt festgestellt, dass Jandls Avantgarde-Begriff sich in eine Tradition literarischer Avantgarden einreiht, die auf die Integration anderer Künste ausgerichtet ist – was etwa in den expliziten Bezügen auf Gertrude Stein oder Kurt Schwitters deutlich wird. Dies schlägt sich auch in der Konzeption seiner Sprechoper Aus der Fremde als Fortführung und Dekonstruktion entsprechender Diskurse zum Gesamtkunstwerk nieder, wie Oliver Ruf bemerkt. 8 Dem eigentümlichen Sprachgebrauch des Konjunktivs in dieser Oper entspricht die Montageform des Films Traube. Das konjunktivische Erzählen wird im Film auf die Ton-Bild-Beziehung und auf die paradigmatische Struktur von Bildfolgen übertragen. Jandl stellt in Aus der Fremde fest, dass es ihm um die «zerstörung von illusion» ginge, um «das spiel auf der bühne durch eine art von erzählen zu ersetzen» 9. Im Anschluss daran könnte man über Traube sagen, dass auch hier die Zerstörung der Illusion vorrangig ist, allerdings nicht einer theatralen, sondern einer televisuellen. Dies geschieht daher nicht durch die Mittel des verbalen Erzählens, sondern durch die Einführung einer Möglichkeitsform, die der Bildsprache selbst beziehungsweise der Bild-Ton-Relation zugeordnet wird. Die Autoren scheinen sich dabei auf Traditionen verschiedenster Avantgarden, vor allem auch im Bereich der bildenden Kunst und der Musik zu beziehen.
Wenn Ernst Jandls einziger Film als Fernsehfilm bezeichnet wird, so schließt er als solcher eher an das Erbe des Avantgardefilms als an die Videokunst an, freilich auch, um Konventionen bestimmter aus dem Film geborener Fernsehgenres ad absurdum zu führen. 10 Ging es der Videokunst Anfang der siebziger Jahre unter anderem darum, in ihren Interventionen direkt auf das Medium Fernsehen, dessen Dispositiv und technische Medialität Bezug zu nehmen (also etwa zum Beispiel auf das Rauschen des Kanals oder auch auf die Logik der Direktübertragung), so widmet sich der Avantgardefilm dieser Zeit der modernistischen Frage nach den materiellen Voraussetzungen und Merkmalen der Kunstform Film (wie Kadrage, Projektion oder Montage), nach der Künstlichkeit der Repräsentation oder aber auch der Frage nach dem Prozess von Bedeutungskonstruktion und nach den Abbildungsprozessen im Film.
Traube wurde als Eigenproduktion des Westdeutschen Rundfunks realisiert, und zwar von der Programmabteilung «Spiele und Unterhaltung» 11. Die Erstausstrahlung im WDR wurde mit einer relativ langen, sehr kenntnisreichen Einführung von Jörg Drews versehen, die Aufbau, Struktur und die avantgardistische Strategien des über weite Teile stummen Films erläutert. Jandl/ Mayröcker/Cramer erstellten ein Drehbuch, das Jandl mit Skizzen versah und das die Einstellungen sowohl in ihrer graphischen Komposition als auch in ihrer strukturellen Abfolge beschreibt und erläutert. Außerdem verfertigte Jandl ein Storyboard, das den Bildablauf und den Aufbau einzelner Aufnahmen inbesondere des ersten Teils weiter präzisiert. Ein solch ausführliches Deskriptionsverfahren hat sein Pendant in einigen literarischen Texten, die sich ebenfalls als Filmentwürfe geben und Einstellungen in einer Weise beschreiben, als handle es sich um bereits gedrehtes Material. Der verbalen Sprache wird hier eine mimetische Kraft zugeschrieben, die das fotografische Bewegtbild in all seiner ikonischen Dichte einholen soll, gleichzeitig aber auch dessen klassische Kompositionslogik fasst. So beginnt Jandl den Prosatext «die männer. ein film» mit folgendem Satz, der nur einen Bruchteil der Bildbeschreibung ausmacht:
«gegen einen orangeroten, durch schwarze horizontale wolkenstreifen zerrissenen himmel, die einzige farbe im bild, sitzen zwei frauen, beide von der seite, im profil, beide als silhouette, daher schwarz, beide von einander abgewandt, frau 1 links, ihr rücken fast auf bildmitte, blick zum linken bildrand, höhe etwa 2/3 der bildhöhe, gleicher abstand nach oben und unten, also je 1/6 der bildhöhe, frau 2 rechts, wesentlich weiter hinten, blick zum rechten bildrand, ihr rücken etwa im drittel der bildbreite, ihre höhe höchstens 1/3 der bildhöhe, gleicher abstand nach oben und unten.»12
Die Beschreibung der ersten Einstellung aus dem Drehbuch von Traube ist ähnlich präzise und scheint aufgrund der reduzierten Bildkomposition nahezu vollständig zu sein:
«1. Einstellung: Frauenhand und etwa 10 cm Unterarm, natürliche Größe, von rechts horizontal im Bild, Hand etwa Bildmitte, zwanglos ausgestreckt, Finger leicht von oben sichtbar, Daumen vorne (R Hand); die helle, unbegrenzte Fläche, auf der im weiteren die Weintraube liegt, ist in diesem Bild bereits vorhanden, doch nicht als solche erkennbar (kein Schatten der Hand). Die Hand kommt nicht allmählich ins Bild, sondern ist sofort in dieser Stellung zu sehen und wird nicht bewegt. (…)» 13
Ein derartiges Übermaß an Deskription ist neben den Sprechgedichten augenscheinlich einer der Wege, die Jandl als Literat einschlug, um im Gegensatz etwa zu Gerhard Rühms puristischem Ansatz, wie er selbst betonte, «auch wenn man derart radikal vorging, auf Bedeutung nicht völlig verzichten» 14 zu müssen. Jandl redet in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen explizit der verschütteten Tradition der radikalen Avantgarde und des Expressionismus das Wort; Hugo Ball, Raoul Hausmann oder auch Kurt Schwitters nennt er «echte Revolutionäre, die in das Gefüge der Sprache mit Witz und Gewalt eingegriffen hatten» 15. Traube scheint insofern an dieses Avantgarde-Konzept anzuschließen, als auch hier zwar die Sprache des Films als Mittel und Technik dekonstruiert wird, jedoch die mimetische Dimension tragend und damit ein Rest von Bedeutung und eine Rückbindung an figurative Konventionen möglich bleibt.
Die Kunsthistorikerin Rosalind Krauss stellte pointiert fest, dass es eine einzige Invariante im Diskurs historischer Avantgarden gibt, nämlich das Thema der radikalen Originalität, die sich gegen die Tradition richtet und Neues schaffen will. Ein solcher Nullpunkt oder Neubeginn wurde oft an die Künstlerperson als Urheber gebunden, als Garant für die notwendige originäre Naivität, für eine reine und freie Ästhetik. 16 Zumindest im ersten Teil des Films Traube schwingt etwas von dieser Idee eines Nullpunkts mit, wenn die Filmemacher sich im wesentlichen auf die Inszenierung von bestimmten Objekten und Körpern beschränken, die in ihrer elementaren Abfolge dem Prinzip einer Art Objektsprache und in der Struktur einer musikalischen Form folgt. Die Autoren selbst schreiben in ihrer Einleitung zum Drehbuch in diesem Zusammenhang von einer «mehrschichtigen rhythmisch-abstrakten Bildkomposition ohne Ton» 17 . Im Avantgardefilm hat eine solche Konzeption Tradition. Schon Viking Eggeling versuchte Anfang der 20er Jahre in seinen abstrakten Filmen Malerei und Musik in filmischen Bewegungsmodulationen graphischer Elemente zu verbinden. Eggelings Symphonie Diagonale (1921—23) arbeitet mit hellen geometrischen Figuren auf schwarzem Hintergrund und läuft ebenfalls ohne Ton. Seinem Verständnis zufolge sollte der Film eine visuelle Komposition sein und das Gegenspiel der Figuren der Logik eines musikalischen Kontrapunkts folgen, er nannte dies «Generalbass der Malerei» 18. Im Unterschied zu Eggeling oder auch zu Hans Richters «absoluten» Filmen wie Rhythmus 21 (1921) und auch in Differenz zu deren avantgardistischen Erben wie Paul Sharits und Peter Kubelka streben Jandl/Mayröcker/Cramer mit ihrer «rhythmisch-abstrakten Bildkomposition» allerdings keine vollständige Abstraktion an, sondern verfahren sehr dezidiert mit figürlichen Darstellungsformen. Die grundlegenden «Elemente» ihrer Modulationen entstammen fotografisch-analogen Motiven aus einer wohl bekannten und gerade in Film, Fernsehen und Werbung präsenten Objektwelt: Eier und Henne, Menschenhand und Traube, Beine in Cowboystiefeln, Bäuerin in der Küche. Insofern handelt es sich hier weniger um die Realisierung der Vorstellung einer universell gültigen abstrakten Formensprache, wie sie Eggeling vorgeschwebt war, als um die Konzeption einer Bildersprache, die sich letztlich auch an verbalsprachlichen Modellen (und deren Unterwanderung) orientiert.
Jandl/Mayröcker/Cramer reduzieren die Bildkompositionen insbesondere im ersten Teil des Films auf einzelne Objekte, etwa durch den Einsatz von neutralem Hintergrund. Dies erlaubt die Betonung der Variation von Perspektiven, der Einstellungsgrößen und anderer formaler Anordnungen, sowie der Einstellungskombinatorik. Ähnlich experimentelle Vorgehen finden sich in Ansätzen der zeitgenössischen Kunst, mit technischen Bildern und Verbalsprache zu arbeiten. John Baldessari führt etwa mit Title (1973) eine Art Pragmatik der Filmsprache vor, die von der einfachen Verknüpfung mehrerer zunächst unbewegter Objekte und Figuren über die Lektüre eines Drehbuchs hin zu Regieanweisungen führt, die bestimmte Handlungen im Bild ankündigen. Auch hier erzeugt die permutative Aneinanderreihung der Einstellungen keine narrative Logik, sondern lotet das performative Verhältnis von Wort und Bild aus.
Wenngleich Jandl/Cremer/Mayröcker den Film wie ein Musikstück anlegen, indem sie dessen Einstellungsfolgen über ein Notationssystem festschreiben, beinhaltet die Montage eine weitere, nicht vorherbestimmte Gestaltungsdimension, die Jandl als «experimentell» bezeichnet und die eher auf eine sprachliche Logik abzielt. Im Drehbuch des Films heißt es über die sogenannte «Cowboysequenz», die eines der zentralen permutativen Elemente des ersten Filmteils darstellt, wie folgt: «Die Zahl der jeweils gezeigten Schritte ergibt sich aus einem Rhythmus, der, abhängig von den Längen der einzelnen Einstellungen, experimentell, d.h. erst beim Schnitt, fixiert wird.» 19 An anderer Stelle des Drehbuchs scheint den Autoren in Bezug auf die Cowboy-Einstellung eine Art Mischung zwischen metrischer und rhythmischer Montage vorzuschweben, im Sinne von Sergej Eisenstein, der in den zwanziger Jahren versucht hatte, Filmmontage in einer musikalischen Terminologie zu beschreiben. 20. In Traube tritt das «immer gleiche Tempo» 21 (Jandl/Mayröcker/Cramer) der Cowboyschritte als metrisches Prinzip mit der Variation der Einstellungslängen in Beziehung. Darüber hinaus wird es durch eine kurze Alternanz mit dem Motiv der Henne rhythmisiert, die in Großaufnahme als relativ statisches Element eingeführt wird. Später, am dramatischen «Höhepunkt» der Sequenz, der Schlachtung der Henne, wird diese in einer Serie von unmittelbar aufeinanderfolgenden stillgestellten Affektbildern sehr nah und haptisch über ihre Körperteile (Flügel, Federn) erfasst und in der Montage als Bewegungsstudie dynamisiert.
Solche Modulationen zwischen Bewegung und Stillstand dienen schon bei Eisenstein der Affekerzeugung, erlauben gleichzeitig aber auch die Schaffung eines Konflikts motivischer, unter Umständen auch bedeutungsstiftender Elemente, und sei es auf der Ebene einer Dekonstruktion. Insbesondere im zweiten Teil des Films, wo die Filmemacher verstärkt mit eingefrorenen Bildern oder Stehkadern arbeiten, wird die Künstlichkeit und die Konventionalität von Filmsprache in der durch die Stillstände betonten Fragmentarik der Montage ausgestellt. Auf einer reflexiven, metasprachlichen Ebene werden hier Konventionen televisueller Konzertverfilmungen bearbeitet. Zentral sind in diesem dekonstruktiven Verfahren die verschiedenen Eingriffe in die Kontinuität des Filmbilds: neben den erwähnten Freeze Frames das «gestörte» Bild-Ton-Verhältnis, die dezidierte Verwendung langer Tonpausen und der Gebrauch von Schwarzfilm.
Jandl/Cramer/Mayröckers Einsatz von Stille schreibt sich in eine Avantgarde-Tradition ein, die in den fünfziger Jahren ihren Ausgang nahm, mit musikalischen Werken von John Cage und innerhalb der Filmkunst etwa mit Filmen von Guy Debord (Hurlement en faveur de Sade, 1952) oder Peter Kubelka (Arnulf Rainer, 1960), die ebenfalls mit Perioden ohne Ton arbeiten. Die Orchestersequenz aus Die Traube scheint insbesondere von Cages Stück 4’33“ von 1952 inspiriert zu sein, das oft verkürzt als Stück über die Stille beschrieben wird. Cage inszenierte damals bekanntlich eine Abfolge von drei Folgen des «Nicht-Spiels», die der Pianist David Tudor in einer Konzerthalle in Woodstock/N.Y. vorführte, indem er den Deckel des Konzertflügels jeweils zu- und wieder aufmachte. Dem Tonkünstler ging es darum, die Erwartungen des Konzertpublikums von der Musik auf die umgebenden Geräusche im Saal zu lenken. Letztere sind von Zufall und Unbestimmtheit geprägt und werden eben genau durch die Beseitigung der intentionalen – musikalischen – Töne bewusst gemacht: Es handelt sich also weniger um vollkommene «Stille» («silence») als vielmehr um die «Stillstellung» («silencing») bestimmter Töne. Cage war seinerseits von Erik Saties Arbeiten zu Hintergrundmusik und Geräuschen beeinflusst, wie vom Genre musique d’ameublement oder von Saties Komposition Cinéma (1924) 22.
Wird der zweite Teil von Traube einem Konzertsaal gewidmet, in dem das Hauptgeschehen nicht zu hören ist, so bildet den dramatischen Höhepunkt der Szene nicht die finale Synchronisierung des Bildes mit der Musik, sondern die sprunghafte Bewegung der Kamera durch den Konzertsaal, in dem empörte Zuschauer auf ein immer penetranter werdendes Spuckgeräusch zu reagieren scheinen, dessen Quelle zunächst nicht sichtbar ist. Die eingeforenen, als prägnante Augenblicke markierten Einstellungen von einzelnen Musikern und Konzertbesuchern (meist in Nahaufnahme) rhythmisieren hier auf paradoxe Weise eine Reihe von Bewegtbildern, nämlich statisch und frontal gefilmte stumme Totalen vom spielenden Orchester. Die partielle Abwesenheit von Bewegung im Bild entspricht hier der weitgehenden Abwesenheit einer zentralen Tonebene, nämlich der Musik. Stellenweise bestimmt das Spuckgeräusch den Bildwechsel. Schließlich kommt die Geräuschquelle langsam ins Bild, in einer Serie von Zooms nähert sich der mobilsierte Blick einem Konzertbesucher, bis dessen Mund in Großaufnahme und in Bewegung zu sehen ist, beim Verfertigen des nämlichen Geräusches, wie man es von Rauchern filterloser Zigaretten kennt, die sich Tabak von der Lippe pusten. Als die Kamera bis zur Detailaufnahme eines Mundwinkels gelangt, wird die schwarzweiße 16mm-Einstellung grobkörnig, die Figuration löst sich auf. In der extremen Detailaufnahme zeigt sich hier die Materialität des Films. Wird dem Konzertbesucher, einer im Prinzip zu Stummheit verdammten Figur, hier ein Sprechwerkzeug verliehen, so ist dabei ein Äußerungszusammenhang zu sehen und zu hören, den Jandl später in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen «Das Öffnen und Schließen des Mundes» 23 nennt. Wie Wendelin Schmidt-Dengler anmerkt, geht es Jandl bei dieser Thematik sowohl um den Übergang von der poetischen zur diskursiven Rede, als auch um die physiologischen Voraussetzungen der Poesie, die Bedienung des Gesprächsapparates bei der Lektüre von Texten, die Materialität der Stimme. 24 Auch in Jandls Avantgardefilm handelt es sich darum, eine reflexive Metaebene zu entwickeln, von der aus die Grundformen der audiovisuellen Darstellung gedacht werden können.
Die Monstrosität des Mundes in Großaufnahme, im übrigen ein beliebter Topos im frühen Film wie in der Videokunst 25, wird nach einer Abblende durch die Reprise des Motivs in Farbe und 35mm unterstrichen. In einer stummen Serie von Stehkadern ist der geschlossene Mund des «Konzertspuckers» (Konrad Balder Schäuffelen) nun nochmals bildfüllend zu sehen, diesmal kleben auf der Lippe Tabakkrümel. Die Kamera springt dann zurück und zeigt den Kopf des Rauchers, der seine Zigarette vor dem Mund bereit hält, danach steht eine Nahaufnahme von den Fingern, zwischen denen die filterlose, krümelnde Zigarette steckt. Es folgen ähnliche, ebenfalls stillgestellte Aufnahmen von einem Frauenmund, einem in Werbemanier geschminkten, weiblichen Gesicht und einer perfekt manikürten weiblichen Hand mit Filterzigarette. An dieser Stelle setzt plötzlich Orchestermusik ein. Wir kehren dann auch im Bild zurück zum Konzertsaal und zum Schwarzweiß und sehen nochmals das Orchester samt Dirigent in einer Totalen, diesmal in voller Bewegung. Zu hören sind die Schlussakkorde einer Symphonie. Die Sequenz schließt in Stummfilmmanier mit einem Zwischentitel, «Viola oder Die Folgen des filterlosen Rauchens», begleitet von tosendem Applaus. Eine Serie von stummen Städteaufnahmen bildet den Übergang zur dritten Teil. Klischeebilder touristischer Ziele, meist in Vogelperspektive gefilmt (Piccadilly-Circus bei Nacht, Rios Corcovado, der Pariser Eiffelturm, die New Yorker Freiheitsstatue), werden hier durch Schwarzfilm getrennt und paradigmatisch ausgestellt. Während der Dunkelphasen sind jeweils Toncollagen aus Geräuschen zu hören, die Flughafenatmosphäre vermitteln, wie Lautsprecheransagen, Gesprächsfetzen oder Motorenlärm. Über die Serialität der Montage und die Kontrapunktik der Tons werden hier konventionelle Posen und Motive (aus der Welt von Werbung und Tourismus) zweckentfremdet, im Sinne von Guy Debords détournement der radikalen Kritik einer Gesellschaft des Spektakels 26 unterzogen.
Doch anders als in Debords Filmen ist bei Jandl/Mayröcker/Kramer keine nihilistische Ästhetik am Werk, sondern bei aller Destruktion gängiger Codes immer noch eine produktive Rückbindung sowohl an filmische Erfahrungen wie auch an die Alltagswelt möglich. Insbesondere der letzte Teil des Films, in dem Jandl in langen Einstellungen beim wiederholten und obsessiven Hantieren an verschiedenen Koffern gezeigt wird, setzt auf eine visuelle Affizierung der Zuschauer. Zwar dient die Tonspur einer Irritation des Gezeigten: Zu hören sind während des Kofferkaufs keine synchronen Worte oder Geräusche, sondern allerlei merkwürdige Signaltöne wie Tuten oder Hupen. Doch erlaubt die Abwesenheit eines realistischen Tons eine umso stärkere Konzentration auf das Bildgeschehen, auf die Prägnanz der Gesten.
Der Film verfügt über kein Wörterbuch, so schreibt der Filmsemiologe Christian Metz in seinen grundlegenden Schriften kurz vor der Entstehung des Films Traube. Eine filmische Einstellung ist nicht auf kleinste Einzelelemente reduzierbar, denen eindeutige signifikative Funktionen zukämen, sondern geht nach vollständigen «Realitätsblöcken» 27 vor. Es gibt im Film, so Metz, keine «doppelte Artikulation» wie in der natürlichen Sprache, kein Äquivalent zur Unterscheidung zwischen Phonem und Morphem, zwischen kleinstem bedeutungsunterscheidenden Laut und kleinstem bedeutungstragenden Element.Insofern können Jandls literarische Strategien der Sprechgedichte, die genau mit dieser doppelten Artikulation arbeiten, nur bedingt auf den Film übertragen werden. Die Filmmontage, so Metz, beruht wesentlich auf der rhetorischen Ebene eines komplexen Konnotationssystems, wie auch auf der Ebene der buchstäblichen Bezeichnung, der Denotation. Die Sprache des Films, so Metz, bedient sich einer Pluralität von Codes und entspricht daher eher einer Poetik als einer Grammatik. Dieser Erkenntnis scheinen Jandl/Mayröcker/Cramer im zweiten und dritten Teil des Films Traube Rechnung zu tragen, wenn die abstrakten Kombinationsprinzipien zugunsten anderer Repetitionsschemata verlassen werden. Letztlich scheint der Film bei aller Distanz zur konventionellen Fernsehsprache auf die affektive Wirkung mimetischer Momente, auf die denotative Reichhaltigkeit des fotografischen Zeichens und auf die konnotativen Netzwerke audiovisueller Verknüpfungen zu setzen.
1 Vgl. Ernst Jandl/Friederike Mayröcker, Brief vom 25.1.1970 an Hartwig Schmidt (WDR).
2 Im Originalmanuskript des Drehbuchs, wie auch in der Gesamtdisposition des Films werden die Namen allerdings nicht wie im Erstabdruck (Cramer, Heinz von, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, «Traube. Ein Fernsehfilm», in Protokolle Nr. 2/1972, S. 163-181) alphabetisch geordnet, sondern in der Reihenfolge Jandl-Mayröcker-von Cramer angeführt.
3 Vgl. Cramer/Jandl/Mayröcker, Traube, a.a.O., S. 165 (= Manuskript S. 3).
4 Zur Unterscheidung zwischen historisch und technisch verschiedenen Formen von Bild-Ton-Beziehungen vgl. Gabriele Jutz, «Not married. Bild-Ton-Beziehungen u der Filmavantgarde», in Rainer, Cosima/Stella Rollig u.a. (Hg.), See this Sound. Versprechungen von Bild und Ton/ Promises in Sound and Vision, Katalog, Lentos, Kunstmuseum Linz, 2009, S. 68-75. Jutz bezieht den Begriff des «silent-with-sound film» von Fred Camper.
5 Cramer/Jandl/Mayröcker, Traube, a.a.O., S. 167.
6 Der Musik- und Filmwissenschaftler Michel Chion nennt die nicht-diegetische Filmmusik deshalb «Grabenmusik». Vgl. Michel Chion, L’Audio-vision, son et image au cinéma, Paris, Nathan, 1990, S. 71-72.
7 Vgl. Cramer/Jandl/Mayröcker, Traube, op. cit., S. 163.
8 Vgl. Oliver Ruf, «»Nochmal den Text? Ein anderer.” Ernst Jandl und die Avantgarde», in Bernhard Fetz (Hg.)/Hannes Schweiger (Mitarbeit), Ernst Jandl. Musik Rhythmus Radikale Dichtung, Zsolnay Verlag, Wien, 2005 (= Band 12 der Reihe Profile), S. 138-157, hier: S. 154.
9 Ernst Jandl, Aus der Fremde. Sprechoper in 7 Szenen, Dramstadt und Neuwied, Luchterhand, 1980, S. 63, zit. n. Ruf, op. cit., S. 147.
10 Der Film stammt aus einer Zeit, als die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ihren Kulturauftrag noch in relativ großzügigem Maße wahrnahmen. In den 1970er Jahren entstand im Auftrag von Sendern wie dem ORF, dem WDR oder auch dem ZDF eine Reihe von einschägigen Werken der Videokunst.
11 Das Drehbuch entstand im Januar 1970. Der Film wurde im Mai und Juni 1971 realisiert; erstmals im 3. Programm des Westdeutschen Fernsehens (WDR) gesendet, und zwar am 27. Dezember 1971. Dies wird zumindest als Notiz zum Drehbuch vermerkt, das 1972 erstmals abgedruckt wurdes. Vgl. Cramer, Heinz von, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, «Traube. Ein Fernsehfilm», in Protokolle Nr. 2/1972, S. 163-181, hier S. 181. Aus den Protokollen der Gesamtdispositition des WDR geht hervor, dass der Film von der Abteilung «Spiele und Unterhaltung» produziert wurde. Die Produktionsleitung besorgte Jörg Zorer, die Herstellungsleitung Holger Lussmann, die Aufnahmeleitung Horst O. Weissenow. Gedreht wurde auf 16 und 35 mm, in Schwarzweiß und Farbe.
12 Ernst Jandl, «die männer. ein film», in ders.,Gesammelte Werke, Bd. 3, Stücke und Prosa, Darmstadt: Luchterhand 1985, S. 407.
13 Jandl/Mayröcker/von Cramer, Traube, a.a.O., S. 164.
14 Ernst Jandl, Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Darmstadt, Neuwied, Luchterhand, 1985, S. 28, cit. n. Wendelin Schmidt-Dengler, «Poesie und Lebenszweck. Das Öffnen und Schileßen des Mundes», in Bernhard Fetz/Hannes Schweiger, op. cit., S. 125-137, hier: S. 131.
15 Ebenda, S. 26, cit. n. Schmidt-Dengler, a.a.o., S. 130.
16 Vgl. Rosalind E. Krauss, The originality of the avant-garde and other modernist myths, Cambridge. Mass., MIT Press, 1986, S. 157.
17 Vgl. Cramer, Heinz von, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, «Traube. Ein Fernsehfilm», in Protokolle Nr. 2/1972, S. 163-181, hier: S. 163.
18 Vgl. etwa Eggelings Tuschzeichung, «Material für den ‚Generalbass der Malerei‘», 1918, reproduziert in Hans Richter. Dada. Art and anti-art, London: Thames & Hudson, 2004, S. 63.
19 Vgl. Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Heinz von Cramer, «Traube. Ein Fernsehfilm», Manuskript, S. 7. bzw. in Protokolle Nr. 2/1972, op. cit., S. 168.
20 Eisenstein entwickelte 1929 eine fünfgliedrige Typologie von stets komplexeren Montageformen, deren oberste Kategorie die «intellektuelle Montage» darstellt. Während die metrische Montage sich einzig nach Einstellungslängen richtet, berücksichtigt die rhythmische Montage bereits innerbildliche Bewegungen, wie etwa Schritte, die dann mit der Länge einer Einstellung in einSpannungsverhältnis treten können. So sind Akzentuierungen und Rhythmuswechsel zwischen den Einstellungen möglich. Vgl. Sergej Eisenstein, «Die vierte Dimension des Films» 1929, in Hans-Joachim Schlegel (Hg.), Sergej M. Eisenstein, Schriften 4: Das Alte und das Neue (Die Generallinie), München, Hanser, 1984, S. 234-253.
21 Vgl. «Traube», in protokolle a.a.O., S. 167.
22 Vgl. Douglas Kahn, Noise, Water, Meat. A History of Sound in the Arts, Cambridge (Mass.), MIT Press, 1999, Kapitel 6, S. 161 ff..
23 Ernst Jandl, Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Darmstadt, Neuwied, Luchterhand, 1985, S. 5.
24 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, «Poesie und Lebenszweck. Das Öffnen und Schileßen des Mundes», in Bernhard Fetz/Hannes Schweiger, op. cit., S. 125-137, hier: S. 126.
25 In diesem Zusammenhang ist etwa an den Schlussmoment des frühen Attraktions-Films The big Swallow (1901)von James A. Williamson oder auch an Bruce Naumans Videoinstallation Poke in the Eye/Nose/Ear 3/8/94 (1994) zu erinnern, wo freilich andere Öffnungen des Gesichts in extremer Nahaufnahme zur Geltung kommen.
26 Debords gleichnamiges Buch La société du spectacle stammt von1967.
27 Vgl. Christian Metz, «Problèmes de dénotation dans le film de fiction» (1966), in, ders., Essais sur la signification au cinéma, Bd. 1, Paris, Klincksieck, 1978, S. 117.
Christa Blümlinger